Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 14

erstens das „Volksmehr“ (die landesweite Mehrheit der
gültig abgegebenen Stimmen) und zweitens das „Stände-
mehr“ (die Zustimmung einer Mehrheit der 26 Kanto-
ne).
59
• Ein weiteres wichtiges direktdemokratisches Instrument
stellt das
fakultative Gesetzesreferendum
dar, das seit
1874 in der Bundesverfassung verankert ist. Durch ein
Gesetzesreferendum können 50 000 stimmberechtigte
Bürgerinnen und Bürger (oder auch acht Kantone) ver-
langen, dass dem Volk ein vom Parlament beschlossenes
Bundesgesetz zur Abstimmung vorgelegt wird (gleiches
gilt für unbefristete Staatsverträge). Die hierfür notwen-
digen Unterschriften müssen die Initiatoren innerhalb
von 100 Tagen nach Bekanntmachung des Beschlusses ge-
sammelt haben. Zur Annahme einer entsprechenden Vor-
lage genügt das „Volksmehr“.
• Daneben gibt es in der Schweiz noch zwei Varianten von
Volksinitiativen
, nämlich zur vollständigen oder aber zur
teilweisen Revision der Verfassung (seit 1891).
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Damit ei-
ne solche Volksinitiative zustande kommt, müssen inner-
halb von 18 Monaten 100 000 Unterschriften von Stimm-
berechtigten gesammelt werden. Sie kann als allgemeine
Anregung zu einer Verfassungsänderung an das Parlament
formuliert sein oder – was häufiger der Fall ist – als bereits
ausgearbeiteter, im Wortlaut nicht mehr zu verändernder
Text zur Abstimmung gebracht werden. Von Seiten des
Parlaments kann dem Volk dazu jedoch auch ein Alterna-
tiventwurf vorgelegt werden.
61
Gängig ist die Auffassung, dass die Gesetzesrefe-
renden eher eine „Bremswirkung“ entfalten, da Parla-
mentsbeschlüsse dadurch blockiert werden können, wohin-
gegen die Volksinitiative wie eine „Antriebswelle“ funktio-
niere, da hierdurch auch Minderheiten die Chance erhalten,
neue Themen auf die politische Agenda zu setzen. Zu be-
rücksichtigen ist allerdings, dass es sich hierbei um verfas-
sungsändernde Initiativen mit einer hohen Erfolgshürde
(„doppeltes Mehr“) handelt, wohingegen „einfache“ Geset-
zesinitiativen lediglich auf Kantonats- und Gemeindeebene
möglich sind (dort ist ihnen auch eine größere Erfolgsquo-
te beschieden). Von entscheidender Bedeutung erscheint je-
doch, wie die direktdemokratischen Instrumente zusam-
menwirken: Sie sind entweder de jure notwendige oder de
facto mögliche letzte Instanz des politischen Entschei-
dungsprozesses (und als solche nicht justiziabel, d. h. durch
die Rechtsprechung nicht korrigierbar). Die Legislativorga-
ne müssen sich daher von vornherein auf eine mögliche ple-
biszitäre Nachentscheidung einstellen, was „extrem hohe
Konsenskosten und aufwendige Entscheidungsprozedu-
ren“
62
nach sich zieht. Sichtbar wird dies beispielsweise im
sogenannten „Vernehmlassungsverfahren“ im Rahmen des
Gesetzgebungsprozesses. Um die Stimmungslage im Volk
frühzeitig auszuloten, holt die Regierung noch vor Beginn
der parlamentarischen Gesetzesberatung die Stellungnah-
men von Parteien, Wirtschaftsverbänden und anderen ge-
sellschaftlichen Gruppierungen ein. Auf diese Weise sollen
referendumsfähige Positionen eingebunden und ein mög-
59 Von grundlegender Bedeutung für das politische System der Schweiz ist die Tatsache, dass Verfassungsreferenden aufgrund der föderalisti-
schen Kompetenzordnung der Eidgenossenschaft bei jeder neuen Bundesaufgabe obligatorisch sind, was als eine Ursache der teilweise ver-
zögerten Entwicklung zum modernen Interventions- und Leistungsstaat wie auch der gesellschaftlichen Modernisierung betrachtet wird;
vgl. Wolf Linder: Direkte Demokratie und gesellschaftspolitische Konfliktlösung in der Schweiz, in: Grenzüberschreitende Diskurse.
Festgabe für Hubert Treiber, hg. von Kay Waechter, Wiesbaden, S. 409–428, hier S. 411.
60 Eine Volksinitiative zur Teilrevision der Verfassung kann sich auf alle Gegenstände einschließlich Finanzthemen beziehen.
61 Seit 1987 ist es möglich, hierzu ein „doppeltes Ja“ abzugeben. Falls sowohl die Volksinitiative als auch der Gegenvorschlag das Volks- und
Ständemehr erreichen, entscheidet eine Stichfrage, welche der beiden Vorlagen in Kraft tritt.
62 Franz Lehner und Ulrich Widmaier: Vergleichende Regierungslehre,
4
Opladen 2002, S. 154.
63 Vgl. Kost (wie Anm. 6), S. 77.
Idee und Perspektiven der direkten Demokratie
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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Der französische Philosoph
Jean-Jacques Rousseau
(1712-1778)
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