Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 13

Idee und Perspektiven der direkten Demokratie
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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54 Vgl. ausführlicher Schmidt (wie Anm. 7), S. 246–251.
55 Kost (wie Anm. 6), S. 76.
56 Gemäß der 1959 eingeführten sogenannten „Zauberformel“ wird die Regierung (Bundesrat) regelmäßig von den vier stärksten im Parla-
ment (Nationalversammlung) vertretenen Parteien gebildet.
57 Vgl. Wolf Linder: Das politische System der Schweiz, in: Die politischen Systeme Westeuropas, hg. von Wolfgang Ismayr,
4
Wiesbaden 2009,
S. 567–605, hier S. 573.
58 Vgl. im Folgenden Linder (wie Anm. 57), S. 575–581, und Kost (wie Anm. 6), S. 76-79. Angemerkt sei, dass auch zu Beschlüssen der kanto-
nalen Parlamente und der in größeren Kommunen existierenden Gemeindeparlamente Referenden durchgeführt werden. In kleineren Ge-
meinden haben die Stimmberechtigten regelmäßig die Gelegenheit, in Gemeindeversammlungen über anstehende Sachfragen zu diskutieren
und abzustimmen (z. B. über Bauvorhaben, aber auch über Steuerangelegenheiten).
intendierte Folgeeffekte wie eine durch ungleiche Partizi-
pationschancen zunehmende politische Ungleichheit.
54
Im
Blick auf die hier besonders interessierende direkte Demo-
kratie sei abschließend jedoch ein anderer Aspekt hervor-
gehoben: Gerade weil die Befürchtung im Raum steht, dass
sich bei direktdemokratischen Verfahren demagogische
Kräfte Bahn brechen könnten, verdient die Frage, wie die
politische Urteilskraft der Bürgerinnen und Bürger gestärkt
werden kann, Beachtung. Ebenso ist die Frage zentral, wie
eine problemadäquate, rationale öffentliche Debatte zu den
zur Abstimmung gestellten Fragen unter den Bedingungen
der Mediendemokratie gelingen kann. Habermas’ Konzept
der deliberativen Demokratie mag insofern ein unerreich-
bares Ideal darstellen, es schärft aber auch den Blick für die
Herausforderungen, die mit direktdemokratischen Szena-
rien verbunden sind.
Die Schweiz als Modell direkter
Demokratie?
Nicht nur die politische Ideengeschichte, auch die in der
Gegenwart gesammelten Erfahrungen geben Aufschluss
über die Funktionsweise der direkten Demokratie. Im fö-
deralen System der Schweiz sind direktdemokratische In-
strumente auf allen Ebenen – Gemeinden, Kantone und
Bund – seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert. Häu-
fig wird die Eidgenossenschaft deshalb als Musterbeispiel
oder Referenzmodell der direkten Demokratie angeführt,
obgleich es zutreffender wäre, diese als „direktdemokrati-
sche(n) Sonderfall“
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zu bezeichnen. Zu deren besonderen
Kennzeichen zählen nicht nur ihre geringe territoriale Aus-
dehnung und kleine Bevölkerungszahl, sondern vor allem
eine ausgeprägt konkordanzdemokratische Staatstradition.
Der politische Meinungs- und Willensbildungsprozess ist
weniger durch das Mehrheitsprinzip bestimmt als vielmehr
durch Prinzipien der Konfliktregelung durch Aushandeln
oder Einvernehmen. Als charakteristisch für die Schweizer
Konkordanzdemokratie gilt daher auch die Machtteilung in
der „Allparteienregierung“.
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Zudem gelten formelle Pro-
porz- oder Paritätsregeln bei der Besetzung öffentlicher
Ämter.
57
Gleichzeitig sind die Möglichkeiten zur direkten
Mitentscheidung in der Schweiz besonders vielfältig ausge-
staltet, wobei der Blick hier primär auf die Bundesebene ge-
richtet werden soll:
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• Das
obligatorische Verfassungsreferendum
ist bereits seit
1848 in der Bundesverfassung verankert. Jede vom Parla-
ment beschlossene Verfassungsänderung muss demnach
dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Aber auch
beimAbschluss völkerrechtlicher Verträge, beispielsweise
über einen Beitritt der Schweiz zu supranationalen Orga-
nisationen wie der EU, ist ein Verfassungsreferendum
durchzuführen. Zur Annahme einer solchen Vorlage ist
das sogenannte „doppelte Mehr“ erforderlich, nämlich
Charles Alexis deTocque-
ville (1805–1859), nach
einer zeitgenössischen
Lithographie von Alphonse
Léon Noël
Foto: SZ-Photo – Scherl
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