Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 12

zu entscheiden und solidarische Verantwortung für das Ge-
meinwesen zu übernehmen. Er negiert nicht die Pluralität
von Interessen, glaubt aber, dass die Menschen mehr Sensi-
bilität für eigene und fremde Interessen entwickeln können,
indem sie miteinander kommunizieren. Dazu entwickelt
Barber auch zwölf konkrete Vorschläge, wie eine neue „Ar-
chitektur des öffentlichen Raums“ aussehen könnte (bspw.
nennt er landesweite „Nachbarschaftsversammlungen“ mit
Legislativkompetenz auf kommunaler Ebene).
46
Mehr De-
mokratie erschwert in dieser Sichtweise nicht die Regier-
barkeit eines Gemeinwesens, sondern im Gegenteil, sie
erleichtert diese, da eine starke Beteiligung die Chancen für
eine verständigungsorientierte Konfliktbewältigung ver-
größert. Während Barber die Kompetenz der Bürgerschaft
grundsätzlich voraussetzt, betonen andere Autoren die
Lern- und Aufklärungsfunktion des Partizipationsprozes-
ses einschließlich der öffentlich geführten Diskussionen.
47
Erwartet wird hiervon gleichfalls eine
„self transformati-
on“
48
zum verantwortungsbewussten Staatsbürger.
49
Die Theorie der deliberativen Demokratie rückt
die rational geführte öffentliche Diskussion bzw. die dis-
kursive Aushandlung politischer Entscheidungen (Delibe-
ration) sogar ins Zentrum ihrer Überlegungen. „Nur die
Anbindung von Entscheidungen des politischen Systems an
zivilgesellschaftlich artikulierte öffentliche Meinungen, so
ein zentraler Ansatzpunkt der Theorie, kann den Anspruch
auf demokratische Legitimität rechtfertigen.“
50
Es geht nach
Habermas also darum, dass die zivilgesellschaftliche Öf-
fentlichkeit einwirkt auf die „rechtsstaatlich eingebettete
parlamentarische Beratung“
51
, was die Qualität und Legiti-
mität der Entscheidungen insgesamt erhöhen soll. Delibe-
rative Politik erweist sich jedoch als äußerst vorausset-
zungsvoll. Nach Habermas kommt es zunächst darauf an,
dass die öffentlich zu führenden Diskussionen und Konsul-
tationen prinzipiell allen zugänglich sind. In Betracht kom-
men grundsätzlich alle Themen, die im allgemeinen Interes-
se zu regeln sind. Darüber hinaus ist jedoch die angestrebte
Diskursqualität von zentraler Bedeutung.
52
Erforderlich
sind demnach nicht nur eine gemeinsame Sprache sowie an-
gemessene (Kommunikations-)Regeln für die Beratungen.
Auch kommt es auf die Argumentationsfähigkeit und die
Verständigungsbereitschaft der Beteiligten an. Vor allem
aber darf der Diskurs nach Habermas nicht von internen
oder externen Zwängen beherrscht werden („ideale Sprech-
situation“ bzw. „herrschaftsfreier Diskurs“) – was ihm kri-
tische Nachfragen zur Rolle der Massenmedien im öffentli-
chen Diskurs eingetragen hat.
53
Die Einwände gegen die beteiligungszentrierten
Demokratietheorien sind zahlreich, selbst wenn eine stär-
kere Bürgerbeteiligung als wünschenswert betrachtet wird.
Hauptkritikpunkte richten sich gegen die hohen Entschei-
dungskosten bei begrenztem sachpolitischem
Output
, die
fehlende Institutionalisierung der Verfahren, die mögliche
Überforderung der Bürgerinnen und Bürger sowie nicht-
46 Ebd., S. 28.
47 Vgl. Schmidt (wie Anm. 7), S. 241.
48 Mark E. Warren, zit. nach ebd., S. 241; siehe auch Hoecker (wie Anm. 39), S. 4.
49 Nicht nur Schmidt (wie Anm. 7), S. 241, erkennt darin „eine moderne Variante von Rousseaus Erziehungsprogramm, das den ‚Bourgeois‘
zum ‚Citoyen‘ umformt“.
50 Kost (wie Anm. 6), S. 29.
51 Schmidt (wie Anm. 7), S. 250 f.
52 Niederschlag findet dies auch in der praxisorientierten Literatur, die sich mit den Einsatzmöglichkeiten, Verfahrensweisen und Qualitäts-
kriterien diskursiver Formen der Bürgerbeteiligung auseinandersetzt; u. a. Patricia Nanz/Miriam Fritsche: Handbuch Bürgerbeteiligung.
Verfahren und Akteure, Chancen und Grenzen, Bonn 2012.
53 Damit hatte er sich selbst bereits kritisch auseinandergesetzt in seiner 1962 erstmals erschienenen, 1990 neu aufgelegten Schrift zum „Struk-
turwandel der Öffentlichkeit“.
Idee und Perspektiven der direkten Demokratie
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
12
Der englische Philosoph
John Locke (1632-1704),
nach einem Stich von
Morellon nach einem
Gemälde von Kneller
Foto: SZ-Photo
1...,2,3,4,5,6,7,8,9,10,11 13,14,15,16,17,18,19,20,21,22,...64
Powered by FlippingBook