Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 9

Idee und Perspektiven der direkten Demokratie
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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27 Dies bedeutet jedoch nicht, wie Vorländer richtigerweise betont, eine generelle Abkehr von der Idee der Volkssouveränität. Die in der ame-
rikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 enthaltene Formel:
„We the People“
bringe dies bereits zum Ausdruck. Vgl. Vorländer
(wie Anm. 4), S. 60–67.
28 Schmidt (wie Anm. 7), S. 109.
29 Vgl. ebd., S. 98–112.
30 Ebd., S. 111.
31 Die sogenannten „Anti-Federalists“ forderten indes häufige Wahlen in kleinen Wahlbezirken sowie Ämterrotation, um die Repräsentanten
möglichst eng an das Wahlvolk zu binden; vgl. ebd., S. 100 f.
32 Ebd., S. 133.
33 Vorländer (wie Anm. 4), S. 27.
34 Schmidt (wie Anm. 7), S. 133.
ist – einen Gegenentwurf zu Rousseaus Lehre von der
Volkssouveränität dar und setzte zugleich einenMeilenstein
auf demWeg zur modernen Repräsentativdemokratie.
27
Der
Verfassungskonvent von Philadelphia entschied sich für ei-
ne repräsentative Demokratie, die durch die Prinzipien der
Gewaltenteilung, des Föderalismus und das Primat der Ver-
fassung bestimmt ist. „Die Souveränitätsfrage wird dem-
nach mit der Verfassungssouveränität beantwortet.“
28
Ein
System der
„checks and balances“
voneinander unabhängi-
ger, aber sich gegenseitig kontrollierender Institutionen
sollte ein effektives Regieren ermöglichen, zugleich aber ei-
ne einseitige Machtkonzentration verhindern. In unserem
Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass sich die
„Federalists“ gegen die direkte Demokratie (von ihnen als
„pure democracy“
bezeichnet) wandten, weil diese die Ge-
fahr einer Tyrannei der Mehrheit in sich berge und die Frei-
heit des Einzelnen wie auch von Gruppen nicht hinreichend
schütze. Das Repräsentativsystem hingegen erschien den
Gründervätern geeignet, egoistische Sonderinteressen und
deren Parteigänger (
„mischief of factions“
) an der Durchset-
zung zu hindern, indem es die schon erwähnten Machtbe-
grenzungen institutionalisiert. Das Spannungsverhältnis
zwischen Freiheit und Gleichheit lässt sich in dieser Denk-
weise auch nicht dadurch auflösen, dass ein einheitlicher
Gemeinwille behauptet wird. Vielmehr gelte es, die Vielfalt
von Interessen und Wertvorstellungen in den sich entwick-
elnden modernen Gesellschaften anzuerkennen und – ver-
mittels der Repräsentativdemokratie – in gemäßigte Bahnen
zu lenken.
29
Schon die frühen Zeitgenossen diskutierten Theo-
rie und Praxis des US-amerikanischen Demokratiemodells
hochgradig kontrovers. Tocqueville bspw. kritisierte mit
bestechender Weitsicht den Modus der Führungsauslese
und den – wie man heute sagen würde – permanentenWahl-
kampf. Das Wahlrecht besaßen ohnehin lediglich „weiße,
besitzende, Steuern zahlende Männer“.
30
Es findet sich in
den „Federalist Papers“ auch kein Plädoyer für eine umfas-
sende Beteiligung der Bürger an den öffentlichen Angele-
genheiten.
31
Mitte des 19. Jahrhunderts schloss John Stuart
Mill, der die liberale Theorie der Repräsentativdemokratie
maßgeblich weiterentwickelte, „partizipationstheoretische
Überlegungen“
32
an, die allerdings einige Brisanz in sich
bergen. Mit Alexis de Tocqueville war er sich einig darin,
dass aktive Beteiligung „entscheidend für politische Ur-
teilskraft und bürgerschaftlichen Gemeinsinn“
33
sei. So ver-
trat Mill einerseits progressive Positionen hinsichtlich des
Frauenwahlrechts und plädierte für ein striktes Verhältnis-
wahlrecht, um auch politische Minderheiten angemessen zu
vertreten. Fortschrittlich ist auf den ersten Blick auch der
Gedanke, die „Bürgerkompetenz“
34
zu fördern, um sie für
das Gemeinwohl nützlich zu machen. Andererseits ist er
keineswegs der Auffassung, dass politische Partizipation
generell maximiert werden soll, stattdessen will er vor allem
die kompetenten Bürger stärker beteiligen. Dazu schlägt
Der Zorn König Johanns Ohneland, nachdem er von den engli-
schen Adligen 1215 zur Unterzeichnung der Magna Charta Li-
bertatum gezwungen worden war. Die Magna Charta gilt als
eines der wichtigsten Dokumente im langen Prozess der Ver-
ankerung bürgerlicher Freiheitsrechte.
Foto: ullstein bild – Heritage Images / The Print Collector
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