Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 10

Mill z. B. ein gestaffeltes Pluralstimmrecht vor, welches ge-
gen das
„one man, one vote“
-Prinzip eklatant verstößt.
35
Hervorgehoben sei schließlich die „Aufwertung des Frei-
heitsgedankens“
36
bei Mill und anderen Vordenkern der li-
beralen Repräsentativdemokratie. Von zentraler Bedeutung
erscheint, dass der liberale Freiheitsbegriff keineswegs auf
die kollektive politische Teilhabe abhebt, sondern auf der
Gewährleistung individueller Freiheit und dem Schutz vor
staatlicher Willkür besteht. Demnach sind die Grund- und
Menschenrechte eines jeden Einzelnen unverbrüchlich zu
garantieren und dürfen nicht einem wie auch immer gearte-
ten Volkswillen untergeordnet werden. Sie sind also auch
gegen eine gesellschaftliche Mehrheit zu schützen. Perma-
nente Machtkontrolle findet im liberalen Verständnis zu-
dem durch die Öffentlichkeit statt.
37
Instrumentelle versus normative Demokratietheorie
Unbestritten ist heute die Auffassung, dass regelmäßig statt-
findende, freie und faire Wahlen das konstitutive Merkmal
demokratischer politischer Systeme sind. Seinen Nieder-
schlag findet dieser Gedanke in Josef Schumpeters viel zi-
tierter Minimaldefinition von Demokratie: „Die demokra-
tische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur
Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzel-
ne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkur-
renzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben.“
38
Diese
enthält in verdichteter Form wesentliche Elemente der rea-
listischen Demokratietheorie, die ein instrumentelles Ver-
ständnis politischer Partizipation vertritt. Die politische Be-
teiligung der Bürgerinnen und Bürger reduziert sich hier im
Wesentlichen auf den Wahlakt als Methode der Herr-
schaftsauswahl. Die Konkurrenz der politischen Eliten um
die Mehrheit der Wählerstimmen steht somit im Zentrum.
Eine Elitenherrschaft auf Zeit wird auch deshalb als zweck-
mäßig erachtet, weil es den Bürgerinnen und Bürger an der
notwendigen Kompetenz mangele, komplexe Sachverhalte
hinreichend zu verarbeiten und problemadäquate Entschei-
dungen zu fällen. Direktdemokratischen Beteiligungsfor-
men wird folgerichtig mit Skepsis begegnet, die Beteili-
gungsbereitschaft des Volkes ohnehin skeptisch einge-
schätzt.
39
Der normativen Demokratietheorie geht es imUn-
terschied zu realistischen Konzeptionen (vgl. die Gegen-
überstellung in Tab. 2) nicht in erster Linie um die Frage,
durch welche Verfahrensregeln die Eliteherrschaft demo-
kratisch legitimiert werden kann, sondern weiter gehend
um die Frage nach der Verwirklichung der Volkssouveräni-
tät. Aktive politische Partizipation stellt hier einen Wert an
sich dar, da sie die individuelle Selbstbestimmung und -ver-
wirklichung der als mündig erachteten Bürgerinnen und
Bürger ermöglicht. Während die realistische Demokratie-
theorie bezweifelt, dass „ein hoher Stand aktiver Teilnahme
stets gut für die Demokratie ist“ (Seymour Martin Lipset),
40
weil die Funktionalität und Stabilität des politischen Sys-
tems dadurch gefährdet erscheinen, wird hier eine umfas-
sende politisch-soziale Teilhabe in sämtlichen Lebensberei-
chen angestrebt. Die beobachtbare politische Apathie resul-
tiert nach Auffassung der normativen Demokratietheorie
aus Herrschaftsverhältnissen, die von den sich verselbst-
ständigenden politischen Eliten dominiert sind. Durch ver-
besserte Partizipationschancen lasse sich diese aber über-
winden. Politische Partizipation kann sich demzufolge
nicht auf einen punktuellen Wahlakt beschränken, sondern
35 Vgl. ebd., S. 135–141.
36 Ebd., S. 133.
37 Vgl. Vorländer (wie Anm. 4), S. 28 f.
38 Josef Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie,
2
Bern 1950, S. 428.
39 Vgl. Beate Hoecker: Politische Partizipation: Systematische Einführung, in: Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest.
Eine studienorientierte Einführung, hg. von Beate Hoecker, Opladen 2006, S. 3–20.
40 Zit. nach Hoecker (wie Anm. 39), S. 3.
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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Idee und Perspektiven der direkten Demokratie
Toggenburger Erbschaftskrieg (1436–1450): Zürich verbindet
sich mit Friedrich III. und zieht gegen die Eidgenossen Schwyz
und Glarus. Das politische System der Schweiz gilt bereits seit
dem Mittelalter als Sonderweg in Europa. Buchmalerei aus
der Berner Chronik – 1444
Foto: ullstein bild - Archiv Gerstenberg
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