Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 6

nerseits und der Qualität der Herrschaft andererseits (vgl.
Tab. 1). Unterschieden werden also zunächst die Herrschaft
eines Einzelnen, der Wenigen und der Vielen. Je nachdem,
ob sich die Herrschaft amWohl der gesamten Gemeinschaft
oder aber am Eigennutz der Herrschenden orientiert, wird
sie als gut oder schlecht qualifiziert. Ideal wäre nach Ari-
stoteles’ Vorstellung eine Herrschaft, in der eine Gemein-
schaft freier Bürger zum Wohle aller regiert. Zwar können
wichtige politische Ämter den besonders Fähigen übertra-
gen werden, aber alle Bürger wirken an der politischen Wil-
lensbildung mit. Voraussetzung dafür ist nach Aristoteles
die Tugend der Selbstbeherrschung. Die Herrschaft der Vie-
len kann sich jedoch in eine Tyrannei verkehren, wenn sich
die vielen Armen und Abhängigen gegen die wenigen ver-
mögenden Bürger vereinigen, um ihr eigenes Streben nach
Besitztum und Gütern rücksichtslos durchzusetzen. Die
Demokratie erscheint somit als entartete Form der Politie,
nämlich als eine auf eigennützige Bedürfnisse orientierte
Herrschaft der Menge.
Aristoteles’ Modell – mit seiner Unterscheidung
der Demokratie von der Idealverfassung der Politie – dient
bis heute als klassischer Bezugspunkt der Demokratiekritik.
Eine lange nachwirkende negative Konnotation des Demo-
kratiebegriffs lässt sich darauf ebenso zurückführen wie we-
sentliche, heute noch diskutierte Vorbehalte gegenüber der
unmittelbaren, direkten Demokratie – etwa die Sorge vor
der fehlenden politischen Urteilskraft der Bürgerinnen und
Bürger sowie einer „Tyrannei der Mehrheit“. Zwar besaß
ein jeder Athener das Recht der Rede,
10
mithin die Mög-
lichkeit, sich in der politischen Überzeugungskunst zu
üben, doch schließt dies nicht aus, dass einige Wenige durch
ihr rhetorisches Geschick die breite Masse hinter sich ver-
sammeln und für beliebige Ziele gewinnen können. Hier
liegt auch das „Selbstgefährdungspotenzial“ der Polisde-
mokratie begründet, bedeutet dies doch in letzter Konse-
quenz: „Wenn der Demos frei ist, alles zu tun, dann kann er
auch die Demokratie […] abschaffen.“
11
Die Idee unver-
brüchlicher Grund- undMenschenrechte, die Minderheiten
Schutz vor Übergriffen der Mehrheit bietet, wurde erst im
Konzept der liberalen Demokratie formuliert. Andererseits
wird die athenische Demokratie bis heute als Modellfall da-
für angesehen, wie sich gerade durch umfassende Teilhabe
die politische Urteilskraft jedes Einzelnen herausbildet, der
Interessenausgleich aller erleichtert und schließlich bürger-
schaftlicher Gemeinsinn entwickelt wird.
Probleme der direkten, unmittelbaren Demokratie
wurden schon früh erkannt und von politischen Denkern
der Neuzeit wie auch der Moderne intensiv reflektiert. Im
Zentrum stand dabei die Frage nach deren Übertragbarkeit
auf die aktuellen Verhältnisse. Von besonderer Relevanz
sind dabei bis heute die folgenden Aspekte.
12
• Die Polisdemokratie wurde erdacht für kleinräumige Ge-
meinwesen, in denen sich jeder Bürger jederzeit an Ab-
stimmungen beteiligen kann, nicht aber für große Flä-
chenstaaten – denn wie könnten dort alle zu allen Fragen
zusammenkommen und sich verständigen?
• Zudem müsste auch jeder Bürger dazu bereit und fähig
sein, seine Beteiligungsrechte oder sogar -pflichten jeder-
zeit wahrzunehmen. Wie aber lässt sich volle politische
Gleichheit herstellen unabhängig von sozialem Status,
Vermögen und Bildung?
• Die Polisgesellschaft wird zudem als ein relativ homoge-
nes Gemeinwesen beschrieben. Unbestritten aber wächst
die soziale und kulturelle Heterogenität von Gesellschaf-
ten. Wie kann also die Demokratie – die direkte ebenso
wie die repräsentative – mit der Pluralität von individuel-
len Interessen und Wertvorstellungen umgehen, so dass
10 Nicht aber das Recht der freien Meinungsäußerung, wie das Beispiel Sokrates und dessen Verurteilung zum Tode durch ein Volksgericht
veranschaulicht; vgl. Vorländer (wie Anm. 4), S. 33.
11 Ebd., S. 36.
12 Vgl. ebd., S. 51–54.
Idee und Perspektiven der direkten Demokratie
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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Tabelle 1: Antike Staatsformenlehre nach Aristoteles
Qualität der Herrschaft
Eigene Darstellung
Anzahl der Herrschenden
Einer
Wenige
Viele
„Gut“
am Gemeinwesen orientiert
Monarchie
Aristokratie
Politie
„Schlecht“
am Eigennutz orientiert
Tyrannei
Oligarchie
Demokratie
1,2,3,4,5 7,8,9,10,11,12,13,14,15,16,...64
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