Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel - page 44

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Gesellschaftliches bzw. politisches Engagement, Jugendprotest und die Wahl der Mittel
Cliquen vermittelte soziale Identität der Befragten gegenüber der eigenen Problematik und persona-
len Identität in den Vordergrund und begünstigte die Radikalisierung mit und in der Gruppe.
Bezüglich der Gewaltthematik wurde festgehalten, dass Gewalt von den Befragten sehr stark mit der
Herstellung von Machtverhältnissen assoziiert wurde und zur Inszenierung von Männlichkeit. Dane-
ben ging sie mit einer Abwertung anderer einher. Gewalt und Unterdrückung spielte bei einem Groß-
teil der Befragten bereits im Kindesalter eine Rolle. Von gewalttätigen Elternhäusern berichtete etwa
die Hälfte der Interviewten. Das Wertesystem der Einzelnen bezüglich verübter Gewalttätigkeiten
war flexibel. Während die Anwendung von Gewalt durch Eltern und anderen verurteilt wurde, baga-
tellisierte und rechtfertigte man eigene Gewalttaten.
Im Zusammenhang mit der Radikalisierung wurden persönliche Aspekte wie eine starke Erlebnisori-
entierung, Risikofreude und das ausgeprägte Bedürfnis nach Selbstinszenierung benannt. Bei den
Befragten konnte kein spezifisches Ereignis identifiziert werden, das einen Auseinandersetzungspro-
zess mit der jeweiligen Szene herbeiführte, vielmehr handelte es sich um einen länger andauernden
Suchprozess. Unabhängig der Szenewahl waren für den Einstieg in die Szene gegenüber ideologi-
schen, soziale und identitätsstiftende Aspekte vordergründig.
Die Themen Politik und Religion spielten eine eher untergeordnete Rolle und wurden erst im Jugend-
alter und auch dann erst in Verbindung mit der jeweiligen Gruppierung bedeutsam.
In Bezug auf begangene Straftaten kann den Ergebnissen der Studie zufolge ebenfalls nicht durch-
gängig von einem politischen bzw. ideologischen Bezug ausgegangen werden. Häufig waren vielmehr
persönliche Tatmotive wie Ehre, die Suche nach Anerkennung in der Gruppe oder persönliche Erleb-
nisorientierung vorrangig. Darüber hinaus wurden die begangenen Straftaten aufgrund der Legitima-
tionsmechanismen in der Gruppe subjektiv nicht als Straftaten wahrgenommen. Die Ausübung von
Gewalt ging der Ideologisierung bereits voraus.
Eine weitere Gemeinsamkeit bezieht sich auf auffällige Entwicklungen in den primären und sekundä-
ren Sozialisationsinstanzen Familie und Schule, sowie im Sozialverhalten der Befragten. Diese deck-
ten sich mit anderen Delinquenten, die sich im biografischen Verlauf nicht zwangsläufig extremisti-
schen Gruppierungen anschlossen (vgl. Lützinger 2010 67ff.).
Zusammenfassend hält Lützinger (ebd., 71) fest, dass Orientierungsmodelle des sozialen Umfeldes
wesentlich waren und die Entscheidung für eine bestimmte extremistische Gruppierung „vom Zufall
– ganz im Sinne von Angebot und Nachfrage – von der Verfügbarkeit dieser Modelle“ abhängig ist.
4.2.4 Studien zu sozialen Bewegungen und kollektiven Identitäten
An dieser Stelle soll auch noch auf Studien zu sozialen Bewegungen und kollektiven Identitäten ver-
wiesen werden, ohne dass eine Darstellung von Ergebnissen erfolgt.
Golova (2011) geht in ihrer ethnografisch angelegten Studie „Räume kollektiver Identität. Raumpro-
duktionen der ‘linken Szene‚ in Berlin“ der Frage nach wie kollektive Identität in einer sozialen Bewe-
gung konstruiert und wie dadurch gemeinsames Handeln ermöglicht wird. Für die Forschung nahm
sie eine raumsoziologische Perspektive ein und untersuchte die Berliner „linke Szene“ mit Hilfe eines
für diese Studie entwickelten theoretischen Konzeptes der Verräumlichung. Beforscht wurden u.a.
Szenekneipen und Demonstrationen in Bezug auf die emotional-körperliche Identitätskonstruktion
und im Hinblick auf Mobilisierung.
Eine weitere Studie zu Prozessen kollektiver Identität führte Haunss (2004) durch. In seiner For-
schungsarbeit „Identität in Bewegung. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der
Schwulenbewegung“ untersuchte er ausgehend von der Arbeitshypothese, dass Prozesse kollektiver
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