Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 39

Direktdemokratische Verfahren auf Landes- und Bundesebene
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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sentlich differenzierter und nuancierter diskutiert, und es
werden häufig verschiedene Argumente abgewogen. Dabei
wird nicht selten auf Erfahrungen mit direktdemokrati-
schen Verfahren in anderen Gesellschaften, etwa in der
Schweiz, anderen europäischen Staaten und der subnatio-
nalen Ebene in den USA, zurückgegriffen.
4
Auf diese
Weise lässt sich überprüfen, ob Behauptungen über vorteil-
hafte und nachteiligeWirkungen direktdemokratischer Ver-
fahren zutreffen. Allerdings ist zu bedenken, dass Funkti-
onsweise und Wirkungen politischer Institutionen, wie es
direktdemokratische Verfahren sind, vom gesellschaftlichen
Kontext abhängen. Beispielsweise kann man nicht ohne
Weiteres annehmen, dass direktdemokratische Verfahren in
der stark repräsentativ ausgerichteten Demokratie der Bun-
desrepublik kurzfristig ebenso wirken wie in der langfristig
gewachsenen halbdirekten Demokratie der Schweiz. Dieses
Argument legt es nahe, bei Diskussionen über direktdemo-
kratische Verfahren auf Bundesebene auch Erfahrungen in
den deutschen Ländern im Blick zu behalten. Denn würden
auf Bundesebene direktdemokratische Verfahren einge-
führt, wären daran imWesentlichen dieselben Bürger betei-
ligt, die nun schon auf unteren staatlichen Ebenen die Mög-
lichkeit haben, direktdemokratische Verfahren zu nutzen.
Vor diesem Hintergrund soll dieser Beitrag einen
Überblick über direktdemokratische Verfahren und deren
Nutzung in den deutschen Ländern geben. Auf dieser
Grundlage soll abschließend die Einführung direktdemo-
kratischer Verfahren auf Bundesebene diskutiert werden.
Beide Schritte setzen eine sorgfältige Unterscheidung ver-
schiedener Typen direktdemokratischer Verfahren voraus,
da andernfalls wichtige Nuancierungen in der Ausgestal-
tung, der Nutzung und der Wirkung direktdemokratischer
Verfahren übersehen würden. Daher wird imFolgenden zu-
nächst der Blick auf diese Unterscheidung gerichtet.
Ein Überblick über direktdemokratische
Verfahren
In der repräsentativen Demokratie wählen Bürger auf Zeit
Repräsentanten, die kollektiv verbindliche Entscheidungen
über Personal- und Sachfragen treffen. Direktdemokrati-
sche Verfahren im engeren Sinne zeichnen sich hingegen da-
durch aus, dass sie Sachentscheidungen in die Hände von
Bürgern legen.
5
Diese Entscheide können auf unterschied-
liche Weise zustande kommen. Sie können einerseits gleich-
sam „von unten“, also von Bürgern, in Gang gesetzt wer-
den. Bürger entwickeln einen Gesetzesentwurf, der schließ-
lich gegen den Willen von Parlament und Regierung in
einem Volksentscheid durchgesetzt werden kann. Anderer-
seits können Volksentscheide gewissermaßen „von oben“
initiiert werden, indem etwa der Regierungschef oder das
Parlament eine Volksabstimmung anberaumt. In beiden
Fällen liegt die letzte Entscheidung bei den Bürgern, nur im
ersten können sie aber gegen die gewählten Mehrheiten Ge-
setze gestalten. Wird eine repräsentative Demokratie um
Verfahren des ersten Typs ergänzt, werden die Spielregeln
des politischen Prozesses somit stärker verändert, als wenn
Verfahren des zweiten Typs eingeführt werden.
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Diese Unterscheidung kann dabei helfen, die di-
rektdemokratischen Verfahren in Deutschland einzuord-
nen. Zentral sind hier drei Verfahren, nämlich Volksinitiati-
ven, Volksbegehren und Volksentscheide.
7
Bei Volksinitia-
4 Siehe hierfür etwa Gebhard Kirchgässner / Lars P. Feld / Marcel R. Savioz: Die direkte Demokratie. Modern, erfolgreich, entwicklungs-
und exportfähig, München 1999. Arthur Lupia / John G. Matsasuka: Direct Democracy: New Approaches to Old Questions, in: Annual
Review of Political Science 7 (2004), H. 1, S. 463–482.
5 Das bedeutet beispielsweise, dass die Volkswahl von Bürgermeistern und Landräten nicht als direktdemokratisches Verfahren gilt.
6 Siehe beispielsweise Lupia/Matsasuka (wie Anm. 4), S. 465. Eine ausführliche Differenzierung verschiedener Typen von Initiativen und Re-
ferenden im länderübergreifenden Kontext bietet David Altman: Direct Democracy Worldwide, Cambridge 2011, S. 7–18.
7 Auf kommunaler Ebene werden demgegenüber die Begriffe Bürgerbegehren und Bürgerentscheid verwendet. Für einen kurzen Überblick
über direktdemokratische Elemente auf Kommunalebene siehe Andreas Kost: Direkte Demokratie, Wiesbaden 2013, S. 33–56.
Transparent mit der Auf-
schrift „Wie viel Mensch ist
ein Bahnhof wert?“, als An-
spielung auf die gewalttäti-
gen Zwischenfälle bei der
Demonstration am
30.09.2010
Foto: ullstein bild – Allgaier
1...,29,30,31,32,33,34,35,36,37,38 40,41,42,43,44,45,46,47,48,49,...64
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