Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 47

Direktdemokratische Verfahren auf Landes- und Bundesebene
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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Volksentscheiden, die aus Volksbegehren hervorgehen (Tab.
3), darauf hin, dass die durchschnittliche Erfolgsquote von
Volksentscheiden in Zukunft eher sinken als steigen wird.
Gerade bei Volksentscheiden über Vorlagen aus
Volksbegehren kann man nicht ohne Weiteres davon ausge-
hen, dass der siegreiche Entwurf tatsächlich in die Tat um-
gesetzt wird. Zwar gelten die Ergebnisse von Volksent-
scheiden auf Landesebene als rechtlich bindend. Gleich-
wohl gibt es Fälle, in denen die Landtage einige Zeit nach
den jeweiligen Volksentscheiden Gesetze verabschiedeten,
die diesen Entscheidenwidersprachen. Eine solche Konstel-
lation von „parlamentarischer Konterlegislatur“ war bisher
in Schleswig-Holstein 1998 im Falle des Volksentscheids
über die Rechtschreibreform sowie in Hamburg im Falle
des Entscheids über die Wahlrechtsänderung 2004 zu beob-
achten.
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Es liegt auf der Hand, dass diese Praktiken Volks-
entscheide mit Initiativfunktion weitgehend entwerten.
Alles in allem legen die Erfahrungen mit direktde-
mokratischen Instrumenten in den Ländern ein abgewoge-
nes Urteil nahe. Nimmt man die zehn Fälle zum Maßstab,
in denen aus einem Volksbegehren ein Erfolg bei einem
Volksentscheid hervorging und der Beschluss in die Tat um-
gesetzt wurde, nimmt sich die Rolle direktdemokratischer
Verfahren bescheiden aus. Tatsächlich sind jedoch auch je-
ne gut 20 Fälle als Erfolge von Gesetzesinitiativen aus den
Reihen der Bürger zu verbuchen, in denen diese vom Parla-
ment (mehr oder weniger) übernommen wurden. Direkt-
demokratische Verfahren scheinen also durchaus dazu bei-
zutragen, dass Gesetze zustande kommen, die ohne diese
Verfahren ausgeblieben wären. Neben diesen direkten Wir-
kungen darf man indirekte Effekte auf die Gesetzgebung
nicht vergessen. Die schiere Existenz direktdemokratischer
Verfahren könnte repräsentativdemokratische Akteure da-
zu bringen, stärker auf die Vorstellungen und Forderungen
von Bürgern einzugehen. Ohne dass sie zum Einsatz kä-
men, würden die Instrumente also wirken. Solche Wirkun-
gen lassen sich naturgemäß nicht einfach nachweisen.
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Unabhängig von deren Ausmaß kann man festhalten, dass
direktdemokratische Verfahren auf Landesebene nicht wir-
kungslos geblieben sind, aber den politischen Prozess nicht
grundlegend verändert haben.
DirektdemokratischeVerfahren auf Bundes-
ebene – Bestandsaufnahme und Ausblick
Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland kam
bislang kein einziges Mal ein direktdemokratisches Verfah-
ren bundesweit zum Einsatz. Damit ist die Bundesrepublik
das einzige Land in der Europäischen Union, das auf natio-
naler Ebene keine direktdemokratischen Erfahrungen hat.
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Der unmittelbare Grund dafür liegt in den restriktiven Re-
geln des Grundgesetzes. Art. 146 GG sieht die Möglichkeit
einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung vor. Sie
wurde bislang nicht genutzt, auch nach der Wiedervereini-
gung nicht, obgleich es damals durchaus gefordert wurde.
Daneben schreibt Art. 29 II GG im Falle einer Länderneu-
gliederung einen obligatorischen Volksentscheid der Bürger
in den betroffenen Gebieten vor.
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Art. 29 IV GG schließ-
16 Otmar Jung: Volksgesetze und parlamentarische Konterlegislatur, in: Analyse Demokratischer Regierungssysteme. Festschrift für Wolfgang
Ismayr zum 65. Geburtstag, hg. v. Klemens H. Schrenk / Markus Soldner, Wiesbaden 2010, S. 427–442.
17 Siehe z. B. Lupia/Matsasuka (wie Anm. 4).
18 Eine Datenbank über weltweite direktdemokratische Verfahren bietet das Center for Research on Direct Democracy C2D.
(Stand: 22. August 2013).
19 Entschieden wird mit einfacher Mehrheit der Stimmen innerhalb der einzelnen betroffenen Gebiete sowie der Gesamtstimmen. Kommt in
einem der betroffenen Gebiete keine Mehrheit zustande, kann der Volksentscheid dennoch erfolgreich ausgehen, wenn in einem anderen
Gebiet eine Zweidrittelmehrheit erreicht wird. Dies gilt nicht, wenn insgesamt zwei Drittel der Teilnehmer gegen die Neugliederung stim-
men (Art. 29 III GG).
Kampagnenposter für die
Volksabstimmung zum
sog. „Minarettverbot“
in der Schweiz am
29. November 2009
Foto: picture-alliance – dpa
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