Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 53

Neue Formen der Bürgerbeteiligung
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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10 Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt am Main 1969.
11 Vgl. James Buchanan und Gordon Tullock: The Calculus of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy, Ann Arbor 1962.
12 Vgl. Peter Bernholz und Friedrich Breyer: Grundlagen der Politischen Ökonomie, Bd. 2, in: Ökonomische Theorie der Politik, S. 252.
13 Vgl. Carole Pateman: Participation and Democratic Theory. Cambridge University Press, Cambridge 1970.
14 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M.
1981.
Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“ ist ein Paradebei-
spiel dafür, wie ein Großprojekt nachträglich durch eine
Volksabstimmung gekippt werden sollte, das bereits durch
Parlamente und Gerichte abgestimmt und bestätigt worden
war. Diese Tendenz einer nachträglichen Abänderung einer
Entscheidung legt die Axt an demokratische Institutionen
und Verfahren. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeu-
tet auch, dass sich die Bevölkerung auf verbindlich getrof-
fene Entscheidungen verlassen kann und muss. Es gibt eine
Legitimation der Demokratie durch Verfahren,
10
die durch
das Infragestellen demokratisch zustande gekommener
Entscheidungen beschädigt wird. Direktdemokratie und
Bürgerbeteiligung sollten nicht bedeuten, dass die Karten
jederzeit nach Belieben neu gemischt werden können und
Direktdemokratie nur als zusätzliches Vetorecht im politi-
schen System betrachtet wird.
Im Hinblick auf das Mischungsverhältnis direkt-
und repräsentativdemokratischer Verfahren gibt außerdem
die politische Ökonomie hilfreiche Hinweise. Nach dem
Interdependenzkosten-Ansatz von Buchanan und Tullock
11
lassen sich demokratische Entscheidungen dahingehend
unterscheiden, welche Kosten bei ihnen anfallen. Generell
treten Entscheidungskosten (decision costs) sowie Kosten
des Demokratiedefizits auf. Die Gesamtsumme beider Kos-
tenarten sind die sogenannten Interdependenzkosten. Bei
rein repräsentativdemokratischen Entscheidungen liegen
die Kosten des Demokratiedefizits (= externe Nachteile) am
höchsten, während die Entscheidungskosten vergleichswei-
se gering ausfallen. Direktdemokratische Entscheidungen
dagegen besitzen hohe Entscheidungskosten bei relativ ge-
ringen Kosten des Demokratiedefizits. Das Optimum einer
repräsentativ- oder direktdemokratisch getroffenen Ent-
scheidung liegt nach Buchanan und Tullock dort, wo die In-
terdependenzkosten minimal sind.
Aus diesemModell kann man ableiten, dass bei zu-
nehmender Komplexität des Entscheidungsgegenstands
eher Repräsentativorgane die Entscheidung treffen soll-
ten.
12
Auchmit steigender Zahl der Gruppenmitglieder neh-
men die Interdependenzkosten zu, weshalb auch in dieser
Hinsicht Parlamente eher für Entscheidungen geeignet sind.
Die zu wählende Entscheidungsregel hängt aber auch von
den zu erwartenden externen Nachteilen der Entscheidung
ab. Je wichtiger die Probleme, desto größer sind die exter-
nen Nachteile, falls man zu der überstimmten Minderheit
gehört. Daraus folgt, dass mit steigender Bedeutung der ge-
sellschaftlichen Probleme ein größerer Teil der Bevölkerung
zustimmen sollte. Buchanan und Tullock argumentieren da-
bei auch mit betroffenen Minderheiten: Je wichtiger die
Probleme für die Gruppenmitglieder sind, etwa Fragen der
staatlichen Unabhängigkeit oder der Verfassungsgebung,
desto stärker sollte das Zustimmungsquorum ansteigen.
Die neuen Bürgerbeteiligungsformen gehen über
die herkömmlichen Verfahren der Bürgerbeteiligung hinaus
und haben verschiedene Wurzeln. Im Zuge der „partizipa-
torischen Revolution“ seit Ende der 1960er-Jahre befür-
worteten Demokratietheoretiker wie Carole Pateman
13
und
Benjamin Barber (1984) die Einführung mehr direktdemo-
kratischer Elemente und neuerer Beteiligungsmöglichkei-
ten. Jürgen Habermas (1981) argumentierte in seiner deli-
berativen Diskurstheorie zudem, dass die konsensorientier-
te, auf Diskussionen basierte Entscheidungsfindung der
alternativen Mehrheitsentscheidung überlegen sei.
14
Eine
von James Fishkin von der Stanford University entwickel-
te Methode, die viele dieser Überlegungen aufnimmt, ist das
Graffito, das die Forderung
nach mehr Demokratie arti-
kuliert, in Lissabon
Foto: ullstein bild – CARO /
Andreas Riedmiller
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