Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 59

Neue Formen der Bürgerbeteiligung
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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S 21, 7,7 Prozent der Gegner von S 21). Gabriel und Faden-
Kuhne haben zudemgezeigt, dass gerade für die Gegner von
S 21 die Durchführung des Volksentscheids eine befrieden-
de Wirkung hatte (65 Prozent der Befragten).
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Generell stehen bei den Bürgerbeteiligungs- und
Planungsbeteiligungsverfahren Kosten- undNutzen-Über-
legungen im Hintergrund, die bei Infrastrukturprojekten
individuell höchst unterschiedlich ausfallen. Daher kann die
Ablehnung dieser Projekte auch als „rationales“ Verhalten
erklärt werden, weil man z. B. Verschlechterungen erwar-
tet. So ist die Vermutung plausibel, dass regionale Vorhaben
mit (vermeintlich) negativen externen Effekten (z. B. Flug-
häfen, Autobahnen, Mülldeponien, Atomkraftwerke, Kin-
dergärten) stärker abgelehnt werden als Maßnahmen mit
positiven externen Effekten (z. B. Theater, Solaranlagen).
Dies wird in der Literatur als NIMBY-Verhalten (Akronym
für „
not in my back yard
“ = „nicht in meinem Garten“) be-
zeichnet.
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Allerdings können auch bei offensichtlich gro-
ßen negativen externen Effekten eines Projektes hohe Zu-
stimmungsraten inAbstimmungen erzielt werden, wenn die
individuelle Kosten-Nutzen-Bilanz (etwa durch schnelle
Verkehrsanbindung) positiv ist. Allerdings konnte ein
NIMBY-Effekt für das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ nicht
nachgewiesen werden.
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Stimmbürger aus dem Großraum
Stuttgart hatten eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit,
dem Projekt zuzustimmen.
In der Literatur und Praxis
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finden sich zahlreiche
Beteiligungsverfahren (vgl. Tab. 3), die als „neue“ Formen
der Bürgerbeteiligung diskutiert werden. Manche dieser
Verfahren, wie etwa Bürgerhaushalte, bei denen es zumeist
um die Zusammensetzung und Höhe des Kommunalhaus-
haltes geht, können noch sehr viel weiter differenziert wer-
den. Gerade das Verfahren zu Bürger- bzw. Beteiligungs-
haushalten hat nach einer ersten Durchführung 1989 in Por-
to Alegre (Brasilien) eine breite Aufmerksamkeit erlangt.
Allerdings lassen die gemachten Erfahrungen und die Be-
teiligungsquoten in Deutschland das Instrument zuneh-
mend in einem kritischen Licht erscheinen. Dennoch
scheint gerade dieses Verfahren eine besondere Relevanz für
die Politik zu besitzen.
Infolge der Demonstrationen gegen den Umbau
des Stuttgarter Bahnhofs und des Polizeieinsatzes am
30. September 2010 – mit über 140 verletzten Demonstran-
ten und einigen Dutzend verletzten Polizisten – wurden die
Schlichtungsgespräche im Oktober 2010 unter Leitung des
CDU-Politikers Heiner Geißler eingerichtet. Die Schlich-
tungsgespräche erzielten eine hohe mediale Aufmerksam-
keit und wurden live imFernsehen und Internet übertragen.
Lothar Frick, der Sekretär der Schlichtung, negierte jedoch
die Frage, ob das Schlichtungsmodell eine neue Form der
Bürgerbeteiligung sei: „Meine Antwort lautet deshalb nein,
weil die Schlichtungsgespräche sehr viel stärker ein Bürger-
informationsprojekt als ein Bürgerbeteiligungsprojekt wa-
ren. Beleg für diese Aussage ist die Tatsache, dass es imRah-
men der Schlichtung nichts zu entscheiden gab, auch kein
Kompromiss zu schließen war und sowohl auf Seiten der
Befürworter als auch der Gegner von S 21 an der Schlich-
tung vor allem Parlamentarier oder in der Gremienarbeit
sehr erfahrene Persönlichkeiten vertreten waren und eben
nicht Bürgerinnen und Bürger als solche.“
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29 Vgl. Oscar W. Gabriel und Kristina Faden-Kuhne: Auswertung einer Befragung vor dem Volksentscheid zu Stuttgart 21. Ergebnisse einer
repräsentativen Erhebung, durchgeführt von infratest dimap, Stuttgart 2011.
30 Vgl. Michael C. Thomsett: NIMBYism: Navigating the politics of local opposition, in: American Journal of Political Science 41 (1997),
H. 1, S. 245–269.
31 Vgl. Uwe Wagschal: Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21: Zwischen parteipolitischer Polarisierung und Spätzlegraben, in: Der Bürger im
Staat 62 (2012), H. 3, S. 168–173.
32 Vgl. Nanz/Fritsche (wie Anm. 16).
33 Frick (wie Anm. 23), S. 162.
1...,49,50,51,52,53,54,55,56,57,58 60,61,62,63,64
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