Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 50

Eine Mehrheit der Bevölkerung fordert seit Jahren mehr
Demokratie, mehr Bürgerbeteiligung oder mehr Volksab-
stimmungen. So ergab eine Umfrage der Bertelsmann Stif-
tung aus dem Jahr 2011 eine deutliche Mehrheit von 78 Pro-
zent für mehr direktdemokratische Verfahren in Deutsch-
land.
1
Direktdemokratie ist auf demVormarsch: Sowohl auf
Länder- und auf kommunaler Ebene wie auch im interna-
tionalen Vergleich haben die Volksabstimmungen in den
letzten Jahren deutlich zugenommen.
Politische Macht kann durch das Volk (genauer die
Stimmberechtigten) grundsätzlich auf zwei Arten ausgeübt
werden: entweder durch gewählte Vertreter in einer reprä-
sentativen Demokratie oder direkt durch eine Volksabstim-
mung bzw. einen Volksentscheid. Demokratische Systeme
legitimieren sich durch Verfahren, die auf solche direkten
oder indirekten (repräsentativen) Entscheidungsmechanis-
men zurückgeführt werden können. In beiden Fällen ist das
Konzept der Volkssouveränität das entscheidende Binde-
glied zwischen den Regierenden und den Regierten, wobei
das traditionelle Verfassungssystem Großbritanniens das
Paradebeispiel der Parlamentssouveränität, also eines Re-
präsentativsystems, ist. Eine Reinform „direkter Demokra-
tie“ gibt es in realen politischen Systemen nicht. Selbst die
Schweiz als Land mit den meisten Volksabstimmungen, in
dem die Volkssouveränität am ehesten direkt wirkt, kann
bestenfalls als „semidirektdemokratisch“ charakterisiert
werden.
2
Bei der Analyse und Darstellung direktdemokra-
tischer Verfahren handelt es sich somit immer um supple-
mentäre Verfahren von im Grundsatz repräsentativen Sys-
temen. Dies gilt auch für neuere, innovative Verfahren der
Bürgerbeteiligung.
Obwohl die generelle Systemfrage zwischen reprä-
sentativer oder plebiszitärer Demokratie kaum gestellt
wird,
3
genießen Verfassungen und Entscheidungen, die die
Weihen einer Volksabstimmung erfahren haben, in der de-
mokratietheoretischen Literatur eine deutlich höhere Zu-
schreibung an Legitimität.
4
Und auch im internationalen
Vergleich gibt es starke Hinweise darauf, dass die Qualität
der Demokratie steigt, wenn mehr direktdemokratische Be-
teiligungsmöglichkeiten entstehen.
In der Bundesrepublik Deutschland sieht das
Grundgesetz generell eine Beteiligung des Souveräns in
Form von Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 GG)
vor. Jedoch sind Volksabstimmungen im Grundgesetz in
nur zwei sehr speziellen Fällen vorgesehen: (1) im Falle der
Länderneugliederung (Art. 29 Abs. 2 GG) sowie (2) bei der
1 Bertelsmann Stiftung: Umfrage der Bertelsmann Stiftung. Durchgeführt von TNS-EMNID, 2011.
2 Vgl. Wolf Lindner: Schweizerische Demokratie. Institutionen – Prozesse – Perspektiven, Bern/Stuttgart/Wien 1999.
3 Vgl. Günther Rüther: Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie – eine Alternative?, Baden-Baden 1996.
4 Vgl. Benjamin Barber: Starke Demokratie – Über die Teilhabe am Politischen, Berlin 1994.
Neue Formen der Bürgerbeteiligung
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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Neue Formen der
Bürgerbeteiligung
Von Uwe Wagschal
Memmingen 2010: Plakat
gegen das totale Rauchver-
bot
Foto: ullstein bild –
JOKER / Erich Haefele
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