Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 52

nem Promille. Einschränkend muss man natürlich hinzufü-
gen, dass es bei politischen Entscheidungen oft weniger um
die Frage der Richtigkeit geht, sondern letztlich umMacht-
fragen und die Durchsetzung politischer Präferenzen.
Ein Beispiel für dieses sogenannte Condorcet-Ju-
ry-Theorem sind Gerichtsverhandlungen mit einem Ein-
zelrichter oder einer Jury. Hier ist intuitiv plausibel, dass die
Wahrscheinlichkeit für ein Fehlurteil bei einer Jury geringer
ist, als wenn nur ein Einzelner das Urteil fällt. Die Sendung
„Wer wird Millionär“ ist ein gutes Beispiel für diesen Zu-
sammenhang: Hier kann der Kandidat einen Telefonjoker
einsetzen und einen „Experten“ befragen, oder den Publi-
kumsjoker, der die Meinung des Studiopublikums einholt.
Für die US-amerikanische Version des Spiels liegen hier
auch Daten vor: In knapp 65 Prozent der Fälle liegt der Ex-
perte richtig, in über 91 Prozent das Publikum.
ImFall von Parlamenten stellt sich der Vergleich zu
Volksabstimmungen schwieriger dar, da hier zwei „Jurys“
verglichen werden. Doch selbst wenn die Parlamentarier
höhere Kompetenzen aufweisen, muss die Wahrscheinlich-
keit für eine korrekte Entscheidung nicht höher liegen als
bei einer Volksabstimmung, wo viele zur Stimmurne gehen.
Realiter liegt bei dieser abstrakten Betrachtung, die Macht-
oder strategische Aspekte außen vor lässt, die Wahrschein-
lichkeit für eine korrekte Entscheidung jeweils nahe bei
eins. Zusammengefasst besagt das Condorcet-Jury-Theo-
rem, dass die Masse – also die „Schwarmintelligenz“ – sel-
tener falsch liegt als einer oder wenige, selbst wenn diese hö-
here Kompetenz aufweisen. Der baden-württembergische
Ministerpräsident Winfried Kretschmann kam 2011 in ei-
nem Interview der Süddeutschen Zeitung zu einem ähnli-
chen Befund: „Das Volk ist nicht dümmer oder klüger als
eine Parlamentsmehrheit“.
7
Doch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass di-
rektdemokratische Entscheidungsverfahren auch Probleme
mit sich bringen können. Volksabstimmungen bergen das
Risiko in sich, dass Politik auf Kosten vonMinderheiten ge-
macht wird. So wurde beispielsweise 1996 die Schulbildung
für Migrantenkinder in Kalifornien in einer Volksabstim-
mung abgelehnt und auch die Entscheidung in der Schweiz
gegen den Bau von Minaretten bei Moscheen erzielte 2009
internationale Aufmerksamkeit. Empirisch vergleichende
Analysen kommen für die USA zu einem ebenfalls negati-
ven Befund.
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Rund 75 Prozent aller Entscheidungen fallen
zu Lasten von Minderheiten aus. Insbesondere werden da-
bei Homosexuelle, Ausländer, Migranten – aber auch Frau-
en – negativ betroffen. Auch Christmann und Vatter zeigen
die Risiken für Minoritäten deutlich auf.
9
Daher sollte bei
der Implementation direktdemokratischer Verfahren darauf
geachtet werden, dass ein ausgebauter Rechtsstaat sowie ei-
ne starke Verfassungsgerichtsbarkeit als Korrektiv eingrei-
fen können, umGrundrechte zu schützen. Umgekehrt kann
sich aber auch eine „Tyrannei der Minderheit“ als proble-
matisch erweisen, wenn es gut organisierten Teilen der Be-
völkerung gelingt, ihre Sonderinteressen zur Abstimmung
zu bringen. Deswegen haben fast alle Bundesländer, bis auf
Bayern, Sachsen und Hessen, bei landesweiten Volksent-
scheiden eine Mindestbeteiligungsquote (Quorum) einge-
führt. Ergänzend ist jedoch auch hier hinzuzufügen, dass
auch in rein repräsentativen Systemen Minderheiten be-
nachteiligt werden können.
Auch laufen direktdemokratische Verfahren Ge-
fahr, missbraucht zu werden, um bereits parlamentarisch
beschlossene Entscheidungen aus den Angeln zu heben. Die
7 Interview mit Wilfried Kretschmann, vgl.
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klueger-als-eine-parlamentsmehrheit-1.1086339 [Stand: 16.12.2013].
8 Barbara S. Gamble: Putting Civil Rights to a Popular Vote, in: American Journal of Political Science 41 (1997), S. 245–269.
9 Vgl. Anna Christmann: Die Grenzen direkter Demokratie. Volksentscheide im Spannungsverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat, Ba-
den-Baden 2012; und Adrian Vatter / Anja Heidelberger: Volksentscheide nach dem Sankt-Florians-Prinzip? Das Abstimmungsverhalten
zu Stuttgart 21 und großen Infrastrukturprojekten in der Schweiz im Vergleich, Bern 2011.
Neue Formen der Bürgerbeteiligung
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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