Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 51

Neue Formen der Bürgerbeteiligung
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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5 Vgl. Heidrun Abromeit: Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: drei Realmodelle der Legitimation staatlichen
Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995), H. 1, S. 49–66.
6 Vgl. Rüther (wie Anm. 3).
Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Ver-
fassung (Art. 146 GG). In der Bundesrepublik ist die Volks-
souveränität zudem noch überformt durch die Verfassungs-
souveränität,
5
die der Verfassung und dem Verfassungsge-
richt ein höheres Gewicht zuschreibt als einer direktdemo-
kratisch getroffenen Entscheidung. Diese Rangfolge
legitimiert auch den Ausschlusskatalog verschiedener The-
men (z. B. Steuern, Besoldung u. a.) bei Volksabstimmun-
gen, die in den Länderverfassungen sowie in den Vorschrif-
ten zu kommunalen Abstimmungen kodifiziert sind.
Welcher Entscheidungsmodus ist besser:
der repräsentative oder der direktdemo-
kratische?
Befürworter der repräsentativen Demokratie sehen einen
zentralen Vorteil repräsentativ getroffener Entscheidungen
darin, dass die Qualität der Entscheidungen höher sei.
6
Der
Demos sei wankelmütig und leicht beeinflussbar, so ein Vor-
wurf, und Volksabstimmungen seien eine „Prämie für Dem-
agogen“, so der erste Bundespräsident Heuss im Parlamen-
tarischen Rat. In der Diskussion um das Für und Wider di-
rektdemokratischer Entscheidungsverfahren wird immer
wieder auf die Kompetenz der Abgeordneten im Parlament
und die Unwissenheit des Volkes verwiesen. Fehlentschei-
dungen – so ein zentrales Argument der Gegner von Volks-
abstimmungen – seien bei direktdemokratischen Entschei-
dungsverfahren wahrscheinlicher. Parlamentarische Ent-
scheidungen wiesen dagegen eine höhere Qualität auf, weil
vorher intensiv im Parlament diskutiert werde. Komplexe
Entscheidungen, wie etwa über den Atomausstieg oder
Großbauprojekte wie „Stuttgart 21“, seien vom Volk kaum
zu verstehen. Oder, wie es ein Reichstagsabgeordneter 1910
schon drastisch ausdrückte: Vox populi, vox Rindvieh. Al-
lerdings haben gerade zahlreiche Befragungen von Abge-
ordneten, etwa zum Euro-Rettungsfonds, gezeigt, dass die-
se oft genug selbst nicht wissen, worüber sie abstimmen. Im
Grunde sind in parlamentarischen Systemen immer nur ei-
ne geringe Zahl von Abgeordneten die Experten für ein be-
stimmtes Politikfeld. Die Beantwortung der Frage, ob die
Qualität von Entscheidungen in Parlamenten oder Volks-
abstimmungen besser sei, sollte jedoch nicht nur auf Basis
normativer Überzeugungen oder anekdotischer Evidenz
getroffen werden.
Kaum wahrgenommen wird im Rahmen dieser
Diskussion, dass bereits im 18. Jahrhundert der Mathema-
tiker und spätere Präsident der französischen Nationalver-
sammlung, Marquis de Condorcet (1743–1794), nachgewie-
sen hat, dass Abstimmungen durch eine Jury mit mehreren
Mitgliedern zu besseren Ergebnissen führen als die Ent-
scheidung Einzelner. Voraussetzung ist, dass die einzelnen
Mitglieder der Jury zu mehr als 50 Prozent die richtige Ent-
scheidung treffen, wofür eine gewisse Sachkompetenz aus-
schlaggebend ist. Bei einer hohen Zahl von Abstimmenden
geht dann die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlentscheidung
gegen null. Dagegen kann sich ein Einzelner leichter irren.
Die Qualität der Entscheidung ist bei einem Einzelnen so-
mit geringer. Dies gilt selbst dann, wenn der Einzelent-
scheider eine höhere Kompetenz aufweist als alle anderen
Mitglieder der Jury. Zur Ableitung der genauen Wahr-
scheinlichkeit der richtigen Gruppenentscheidung trifft
Condorcet verschiedene Annahmen. So muss es sich um ei-
ne Mehrheitsabstimmung mit zwei Alternativen handeln,
und die Jury-Mitglieder müssen unabhängig voneinander
handeln. Zudem muss die fachliche Kompetenz der Jury-
Mitglieder gleich sein. Liegt etwa der Kompetenzwert der
Jury-Mitglieder (oder des Volkes) bei 0,55 (also die indivi-
duelle Wahrscheinlichkeit für eine richtige Entscheidung),
dann resultiert daraus schon bei 1000 Abstimmenden eine
Wahrscheinlichkeit für eine Fehlentscheidung von unter ei-
DieTeilnehmer des sogenannten Filderdialogs beraten am
16. Juni 2012 in Leinfelden-Echterdingen über mögliche alter-
native Stuttgart-21-Trassenvarianten rund um den Landes-
flughafen.
Foto: picture-alliance – dpa
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