Themenheft Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 2/13) - page 32

gehren ist allerdings nicht selbstverständlich, da Art. 75 BV,
der Änderungen der Verfassung regelt, eine Änderung im
Wege der Volksgesetzgebung nicht ausdrücklich erwähnt.
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat jedoch in seiner
Entscheidung vom 17. September 1999 die von ihm schon
vorher
71
angenommene Zulässigkeit vollplebiszitärer Ver-
fassungsänderungen damit begründet, dass
• der Verfassungsausschuss der Bayerischen Verfassungge-
benden Landesversammlung das im diskutierten Verfas-
sungsentwurf enthaltene Verbot der Verfassungsänderung
durch Volksgesetzgebung aufgegeben hat, wenn auch aus
unklaren Gründen,
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• auch § 10 Nr. 1 der Bamberger Verfassung von 1919, auf
die in den Beratungen des Verfassungsausschusses mehrfach
Bezug genommen wurde, die Möglichkeit verfassungsän-
dernder Volksgesetzgebung vorsah,
• die hohe Wertschätzung, welche die Bayerische Verfas-
sung der Volksgesetzgebung entgegenbringt, dafür spricht,
dass eine Änderung der Verfassung auch im vollplebiszitä-
ren Verfahren nach Art. 74 BV möglich ist und nicht nur im
Verfahren nach Art. 75 Abs. 2 BV.
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Bisher ist es in zwei Fällen zu einer vollplebiszitä-
ren Verfassungsänderung nach Art. 74 BV gekommen: 1995
wurden das kommunale Bürgerbegehren und der kommu-
nale Bürgerentscheid in Art. 7 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 3 BV
verankert,
74
während durch Volksentscheid vom 8. Februar
1998 die Verfassungsbestimmungen zum Bayerischen Senat
aufgehoben und damit der Senat abgeschafft wurde.
75
Das Zustimmungsquorum bei Volksentscheiden über
vollplebiszitäre Verfassungsänderungen
Selbstverständlich gelten das Koppelungsverbot und das
Einleitungsquorum des Art. 74 Abs. 1 BV auch für die ver-
fassungsändernde Volksgesetzgebung. Es stellt sich jedoch
die Frage, ob für die Änderung der Verfassung darüber hin-
aus nicht strengere Anforderungen zu gelten haben als für
die Volksgesetzgebung bei einfachem Landesrecht. Da die
Verfassung ihre vollplebiszitäre Änderung nicht themati-
siert und damit nicht regelt, können von ihremWortlaut her
insoweit nur die Bestimmungen des Art. 74 BV zum Tragen
kommen, der auch für die einfachgesetzliche Volksgesetz-
gebung gilt. Das Volk könnte also die Verfassung unter den-
selben Voraussetzungen ändern wie jedes einfache Gesetz;
der Verfassung käme gegenüber dem einfachen Gesetz im
Rahmen der Volksgesetzgebung kein erhöhter Bestands-
schutz zu, obwohl die Hürde für die Änderung der Verfas-
sung auf Initiative des Parlaments (Zweidrittelmehrheit der
Mitgliederzahl und Verfassungsreferendum) so hoch liegt
wie in keinem anderen deutschen Land.
Diese – als misslich erkannte – Konsequenz mein-
te der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom
2. Dezember 1949
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hinnehmen zu müssen. In seiner Ent-
scheidung vom 17. September 1999
77
hat er diese Ansicht
aber aufgegeben. Die Verhandlungen im Verfassungsaus-
schuss der Bayerischen Verfassunggebenden Landesver-
sammlung und in der Bayerischen Verfassunggebenden
Landesversammlung selbst zeigten, dass es dem Verfas-
71 VerfGHE 2, 181/219; 50, 181/201.
72 Vgl. hierzu auch den Abschnitt „Die Verhandlungen im Verfassungsausschuss der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung
(1946)“ in diesem Artikel.
73 VerfGHE 52, 104/126.
74 Gesetz zur Einführung des kommunalen Bürgerentscheids vom 27. Oktober 1995, GVBl. S. 730.
75 Gesetz zur Abschaffung des Bayerischen Senats vom 20. Februar 1998, GVBl. S. 42.
76 VerfGHE 2, 181/219.
77 VerfGHE 52, 104.
Volksbegehren und Volksentscheid in Bayern – Geschichte und rechtliche Grundlagen
Einsichten und Perspektiven Themenheft 2 | 13
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Ein Symbolfoto für
Nichtwähler
Foto: ullstein bild – CHROM-
ORANGE / Christian Ohde
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