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Salafismus – eine Einordnung
18 Ahmad Mahmud Hafez: al-salafiyyun. al-fikr wa al-mumarasah [Die Salafisten. Denkweise und Praxis], Tunis 2012, S. 14.
19 Küng (wie Anm. 7), S. 330.
20 Der ägyptische Al-Azhar-Gelehrte Mohamed Emara identifiziert fünf Grundsätze, die Ibn Hambal festgelegt hat, um die richtige Herange-
hensweise mit dem Koran und den Hadith-Sammlungen zu gewährleisten: 1. Die wörtliche Auslegung von Texten, hier insbesondere des
Korans und den klaren Überlieferungen von Muhammad; 2. die wörtliche Auslegung bzw. die Übernahme der Gutachten, die die Wegge-
fährten Muhammads nach dessen Ableben verfasst haben; 3. im Falle eines Dissenses hinsichtlich der Richtigkeit der Gutachten ist die Posi-
tion, die dem Koran und der Sunna am nächsten kommt, zu bevorzugen; 4. Überlieferungen, die defizitär sind, sind dem Analogieschluss
vorzuziehen; 5. wenn keine Texte und Überlieferungen zu einer Rechtslage vorhanden sind, dann ist der Analogieschluss exzeptionell er-
laubt. Siehe Mohamed Emara: al-salafiyya. wahida? am salafiyyat? [Der Salafismus. Einer oder viele Salafismen?], Kairo 2008, S. 17 f.
21 Ebd.
22 Birgit Krawietz: Ibn Taymiyya, Vater des islamischen Fundamentalismus?, in: Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer is-
lamisch-fundamentalistischen Bewegung, hg. von Thorsten Gerald Schneider, Bielefeld 2014, S. 68.
23 Emara (wie Anm. 20), S. 35–44.
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Eine herausragende Figur der Strömung der „Angehörigen
der Überlieferungen“ war der Gelehrte Abu Abdullah Ah-
mad Ibn Hambal (780–855 n. Chr.). Ibn Hambal erachtete
den Koran und die Überlieferungen als die einzigen Quel-
len für Religion, Theologie und Jurisprudenz. Nur ein strik-
ter literalistischer, also wortgenauer Umgang mit diesen
Quellen, so Ibn Hambal, ermögliche den Anschluss an das
Ideal der „rechtschaffenen Altvorderen“ und die Realisie-
rung des „wahren“ sowie „reinen“ Islam.
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Denn dieser sei
durch erarbeitete Meinungen, hellenistisch geprägte ratio-
nal-logische
Schlussfolgerungen,
Analogieschlüsse
und
Textdeutungen verfälscht worden.
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In der weiteren historischen Entwicklung der Strö-
mung der „Angehörigen der Überlieferungen“ hat sich der
Gelehrte Taqi al-Din Ahmad Ibn Taymiyya (1263–1328 n.
Chr.) als ein vehementer Traditionalist hervorgetan. Wie
auch zuvor Ibn Hambal kritisierte Ibn Taymiyya eine Ent-
fremdung vom wahren Islam der Ära der „rechtschaffenen
Altvordere“ als Ursache für den Verfall der Ordnung. Sei-
ne Kritik zielte insbesondere auf die im 11. Jahrhundert füh-
rende theologische Schule der rationalistisch geprägten
„Aschaariten“, „denen er allerlei unerlaubte Neuerung (
bi-
da’, Sg. bid’a
) attestierte. Sie sind von der Religion der […]
[„rechtschaffenen Altvorderen“] abgewichen und haben so
die Schwächung der eigenen Reihen und dadurch das Un-
heil, das die islamische Welt nach dem Zusammenbruch des
von Bagdad aus regierten Kalifenreichs getroffen hat, her-
vorgerufen“.
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Ibn Taymiyyas scharfe Kritik an rationalistischen Metho-
den der Rechtsfindung formulierte er in der Gestalt, dass
das rationalistische Moment der Argumentationen in den
Dienst der göttlichen Offenbarung gerückt wurde. Dazu
hob er hervor, dass eine rationalistisch-logische Schlussfol-
gerung der Texte (Koran und
Hadith
-Sammlungen), wenn
sie nur richtig betrieben werde, zu gleichen Ergebnissen
führen würde, wie die wortgetreue Lesart der Texte. Das
Gleiche gelte für die Methoden Analogieschluss und Text-
deutungen.
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Trotz des integrativen Vorgehens, die Methoden
logische Schlussfolgerung, Deutungen und Analogieschluss
einzubinden, bleibt Ibn Taymiyya in der Tradition „der An-
wurde die reinste und authentischste Form des Islam prak-
tiziert. Die daran anknüpfende Glaubenslehre bezieht sich
auf die Glaubenslehre der „Angehörigen der Tradition und
der Weggefährten“ (
ahl al-sunna wa al-jamaa
). Allgemein
werden die ersten drei Generationen mit Muhammads Wir-
ken als die Ära der „rechtschaffenen Altvorderen“ verstan-
den.
Dabei
wird
die
zeitliche
und
akteurbezogene
Einordnung dieser „goldenen Ära“ – die Lebenszeit von
Muhammad – bzw. dieser idealen islamischen Zeit in Be-
zugnahme auf einen Muhammad-Ausspruch (
Haidth
) vor-
genommen: „Die besten Leute sind die meiner Generation,
dann diejenige, die ihnen folgen, und danach die, die darauf
folgen“.
18
Jenseits des Einvernehmens über die zeitliche Ab-
grenzung von drei Generationen besteht eine große Unei-
nigkeit darüber, was mit Generation gemeint ist, welche
genaue Zeiteinteilung diese bedeutet und wer zu diesen
„rechtschaffenen Altvorderen“ gezählt werden kann.
Die zeitgenössischen Salafisten, denen die „recht-
schaffenen Altvorderen“ als Vorbild dienen, betrachten sich
selbst als „die Angehörigen des Paradieses“ oder als „die
Gruppe der Geretteten“, die aufgrund der Praktizierung des
„wahren“ Islam mit einem Platz im Himmel belohnt wer-
den – im Gegensatz zu allen anderen, die im Fegefeuer en-
den werden.
Seit etwa dem späten 8. Jahrhundert wurden suk-
zessive die
Hadith
-Schriften – Aussprüche, Berichte und
Überlieferungen von und über Muhammad – systematisch
gesammelt und kanonisiert. Parallel dazu entstanden diver-
se theologische sowie religiös-juristische Schulen, die im
Hinblick auf Lesart und Umgang mit dem Koran und den
Hadith
-Sammlungen unterschiedliche Herangehensweisen
hatten. Vor demHintergrund dieser diversen theologischen
sowie juristischen Ausrichtungen etablierten sich die „An-
gehörigen des
Hadithes
/der Überlieferungen“ (
ahl al-ha-
dis
); eine Strömung, die eine traditionalistische Perspektive
auf Theologie und Rechtsystem einnahmen. Sie lehnten „lo-
gische Methoden der [Angehörigen] der Meinung“ (
ahl al-
ra’y
) ab, die sich in theologischen und juristischen Fragen
um rationale Erhellung und Systematisierung, um freie Mei-
nungsbildung (
ra’y
), analoge Ableitung (
qiyas
) oder Argu-
mentation (
igtihad oder igtihad ar-ra’y
)“ bemühten.
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