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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
Der tunesische Präsident Béji Caïd Essebsi (1. Reihe, Mitte) mit seinem Kabinett nach der Vereidigung, Tunis, 6. Februar 2015
Foto: ullstein bild/Fotograf: Zoubeir Souissi
73 Kübler (wie Anm. 72).
74 Hier und im Folgenden: ebd.
75 Ausführlich hierzu: Elyes Ben Sendrine: Methoden und Praxis des Machtmissbrauchs. Wie das Regime Ben Ali Kritiker systematisch
mundtot machte, in: Moritz Behrendt, Robert Chatterjee, Daniel Gerlach u. Philipp Spalek (Hg.): Diktatur bewältigen. Aufarbeitung und
Übergangsjustiz in Ägypten und Tunesien, Berlin 2013, S. 174–203.
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rapide gesunken. Da keiner der Präsidentschaftskandidaten
die absolute Mehrheit erreichen konnte, kam es im Dezem-
ber zu einer Stichwahl zwischen Altpräsident Moncef Mar-
zouki und Béji Caïd Essebsi, die Letztgenannter für sich
entschied.
Essebsi war bereits Außen- und Innenminister un-
ter Bourguiba, Parlamentspräsident unter Ben Ali und
Übergangspremier nach der Revolution von 2011. Heute
gehört der 88-Jährige der erst 2012 gegründeten, säkularen
Partei
Nidaa Tounes
(„Ruf Tunesiens“) an und gilt als kleins-
ter gemeinsamer Nenner des Anti-
Ennahda
-Bündnisses.
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Als Premierminister fungiert seit Anfang Februar 2015 mit
Habib Essid ein parteiloser Ökonom, der vor allem für sei-
ne Wirtschaftskompetenz bekannt ist. Nach der friedlichen
Machtübergabe durch
Ennahda
hat die junge Demokratie
die erste Hürde genommen. Die Zeit der politischen Insta-
bilität des Landes scheint mit der neuen Verfassung und ei-
ner handlungsfähigen, demokratisch legitimierten Regie-
rung vorerst überwunden zu sein. Neben der stagnierenden
Wirtschaft sieht sich die Politik jedoch weiteren enormen
Herausforderungen gegenüber, die für die nun führenden
Köpfe auch persönlicher Art sein werden: die Achtung der
Menschenrechte und die Aufarbeitung der Diktatur.
Presse- und Meinungsfreiheit
auf dem Prüfstand
Ein wahrer Personenkult
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um den neuen Präsidenten Es-
sebsi geht vor allem auf die Zeit der Übergangsregierung
nach der Revolution zurück, in der er sich einen hervorra-
genden Ruf insbesondere imVergleich zu den Islamisten er-
arbeitete – selbst Journalisten nannten ihn in Artikeln bei
seinem Spitznamen
„Bajbouj“
, den er seit Kindheitstagen
trägt. Für systemkritische Journalisten gilt Essebsi eher als
Gefahr, wie zwei Beispiele verdeutlichen: Kurz nach seiner
Wahl zum Jahresende kam es zu spektakulären Verhaftun-
gen. Die Regisseurin Ines Ben Othman wollte gegen eine
Polizistin Anzeige erstatten, die sie auf Facebook mehrfach
bedrängt und beleidigt hatte; stattdessen wurde sie selbst
verurteilt. Der Blogger Yassine Ayari, der
Nidaa Tounes
und
Essebsi imWahlkampf scharf kritisiert hatte, wurde von ei-
nem Militärtribunal wegen Verleumdung zu drei Jahren
Haft verurteilt.
Diese Verstöße gegen die Meinungsfreiheit haben
in Tunesien eine lange Tradition: Das Grundrecht war be-
reits von Bourguiba massiv eingeschränkt worden, unter
Ben Ali wurde jegliche Art von Kritik unterdrückt.
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Doch
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