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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
Mann, der früher das alte System unterstützte. Ein berech-
tigter Vorwurf? Oder ein haltloser Verdacht? El-Heni ist ein
gutes Beispiel dafür, dass sich die Grenzen nicht einfach zie-
hen lassen. Zu Zeiten der Diktatur schrieb der Journalist für
das regierungsnahe Blatt „La Presse“. Unbestritten ist aber
auch, dass sein Blog im Internet während der Präsident-
schaft Ben Alis mehr als hundert Mal geschlossen wurde.
Der Fall el-Heni fiel noch in die Regierungszeit von
Ennahda – Nidaa Tounes
und die neue Regierung müssen
nun beweisen, dass sie die Meinungsfreiheit höher schätzen
als ihre Vorgänger. Bisherige Vorkommnisse wie die der bei-
den Verhaftungen zum Jahresende (s. o.) nähren bereits
Zweifel.
„Instanz derWahrheit undWürde“
76 Reporters Without Borders, World Press Freedom Index 2014:
[Stand: 11.02.2015].
77 Reporters Without Borders, World Press Freedom Index 2010:
[Stand: 11.02.2015].
78 Hier und im Folgenden: Milz (wie Anm. 13).
79 Kübler (wie Anm. 72).
80 Zur Dringlichkeit der Archivöffnung siehe Amen Allah Derouiche: Warum die Archive geöffnet werden müssen. Ohne vollen Aktenzu-
gang sprießen in Tunesiens postrevolutionären Gerichtsverfahren die Gerüchte, in: Behrendt/Chatterjee/Gerlach/Spalek (wie Anm. 75),
S. 206–216.
81
Fleischer (wie Anm. 16), S. 6.
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Der Journalist Zied el-Heni am Tag seiner Entlassung, Tunis,
17. September 2013
Foto: Kristina Milz
auch nach der Revolution sehen sich Journalisten schwieri-
gen Arbeitsbedingungen und Einschränkungen gegenüber:
Zwar herrscht seither offiziell Pressefreiheit, doch der Zu-
gang zu Informationen wird regierungskritischen Journa-
listen verwehrt. Die Organisation „Reporter ohne Gren-
zen“ stuft Tunesien im Jahr 2014 in ihrem Ranking der glo-
balen Pressefreiheit auf Rang 133 von 180 Ländern ein.
76
Das ist zwar eine Verbesserung gegenüber dem Stand unter
Ben Ali, wo das Land noch auf dem 164. Platz rangierte
77
aber es ist nicht der von vielen erwartete Meilenstein.
Die nach wie vor schlechte Bewertung ist nicht zu-
letzt Fällen wie dem von Zied el-Heni geschuldet.
78
Der ein-
flussreiche tunesische Journalist, der über Korruption und
politische Attentate berichtet hatte, saß im September 2013
drei Tage in Haft, weil er einen Staatsanwalt verleumdet ha-
ben soll. Er hatte im Fernsehen die Freilassung eines Kame-
ramanns gefordert, der aufnahm, wie ein Ei auf den Kultur-
minister geworfen wurde. El-Heni beschuldigte im Fernse-
hen Staatsanwalt Tarek Chkioua eines Komplotts, das das
Ziel habe, die tunesischen Medien einzuschüchtern. Diese
Aussage war offensichtlich zu viel der Meinungsfreiheit.
Der Journalist musste ins Gefängnis, ohne dass seine An-
wälte angehört wurden. Es folgte ein Generalstreik der tu-
nesischen Medienvertreter. Gegen eine Kaution wurde el-
Heni wieder freigelassen.
„Es ist bekannt, dass el-Heni früher dem Ben-Ali-
Regime nahestand“, kommentierte ein
ANC
-Abgeordneter
den Vorfall. Für die einen ist el-Heni ein Held, der für die
Freiheit der Presse kämpft – für andere dagegen ist er ein
Ähnliches gilt für die Aufarbeitung der Diktatur Ben Alis,
deren Unterstützung dem neuen Präsidenten Essebsi als
ehemaligem Minister aus dieser Zeit schwer fallen dürfte.
Im Juni 2014 wurde die Journalistin und Menschenrechts-
aktivistin Sihem Bensedrine zur Präsidentin der
„Instance
Vérité et Dignité“
(„Instanz der Wahrheit und Würde“) ge-
wählt. Die Wahrheitskommission soll alle hohen Amtsträ-
ger auf Verbindungen zum Ben-Ali-Regime überprüfen. Sie
nahm ihre Arbeit im Dezember 2014 auf. Als eine ihrer ers-
ten Amtshandlungen wollte Bensedrine kurz nach der Wahl
Essebsis Dokumente aus dem Präsidentenpalast in Sicher-
heit bringen – ein Eklat.
79
Sie fürchtete offensichtlich die
Vernichtung wichtiger Akten,
80
da Essebsi hatte verlauten
lassen, dass die Wahrheitskommission einzig dazu diene,
alte Rechnungen zu begleichen.
Bei den Protesten gegen Ben Ali wurden 300 Men-
schen getötet, die Zahl der Verletzten wird auf 700 ge-
schätzt.
81
Alte Rechnungen sind also tatsächlich noch offen.
Das gilt aber nicht nur für die Regierungszeit Ben Alis und
dessen unter zahlreichenOpfern durchgesetzten Sturz, son-
dern auch für die darauf folgende Periode der
Ennahda
-
Regierung:
Die
Ermordung
des
Oppositionspolitikers
Chokri Belaïd wurde bis heute nicht aufgeklärt, genauso
wenig wie die seines Kollegen Mohamed Brahmi. Zumin-
dest den Ermittlungen im islamistischenMilieu steht mit der
neuen säkular orientierten Regierung politisch nichts mehr
imWege. Wie diese jedoch mit ihren eigenen Kritikern um-
geht – nicht zuletzt daran wird sich entscheiden, ob Tune-
sien in der Demokratie angekommen ist.
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