Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 51

Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
14 CIA World Factbook 2014,
[Stand: 11.02.2015].
15
Juliette Garmadi-Le Cloirec: Remarques sur la Syntaxe du Français de Tunisie, in: Langue Française 35 (1977), S. 86.
16 Zur „Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT)“ und seiner Vergangenheit in der Opposition siehe Anna Fleischer: Tunesien:
Der Geburtsort des „Arabischen Frühlings“ – Drei Jahre danach. Kurzanalyse des Deutschen Orient-Instituts, Berlin 2014, S. 5 f.
17 Hier und im Folgenden: Fleischer (wie Anm. 16), S. 2 f.
18 Dazu auch ebd., S. 4 f.
19 United Nations Population Fund 2014.
20 CIA World Factbook (wie Anm. 14).
21 Das verbleibende Prozent setzt sich aus Christen, Juden, Schiiten und Anhängern der vergleichsweise jungen
Baha’i
-Religion zusammen:
CIA World Factbook (wie Anm. 14).
22 Die Diskussion um die Demokratiekompatibilität „des Islam“ erfreut sich spätestens seit den jüngsten Entwicklungen in der arabischen
Welt wieder verstärkter Aufmerksamkeit. Der kulturalistische Ansatz, der auf dem von Huntington suggerierten „Kampf der Kulturen“
fußt, ist in dieser Frage vor allem im populistischen Diskurs nach wie vor breit vertreten. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations
and the Remaking of World Order, New York 1996.
23 Moaddel (wie Anm. 3), S. 61.
24 Einen nützlichen Vergleichswert stellen hier die ägyptischen Untersuchungsergebnisse mit immerhin 26 Prozent dar, vgl. Moaddel
(wie Anm. 3), S. 66.
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bis 1987 autoritär regierte. Die Spuren, die der französische
Kolonialismus hinterlassen hat, sind bis heute spürbar: Ob-
wohl Arabisch als einzige Amtssprache fungiert,
14
spricht
eine breite Mehrheit im Alltag das als Tunesisch bezeichne-
te Gemisch aus Arabisch und Französisch, für das es keine
offizielle schriftliche Entsprechung gibt.
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Bestrebungen,
die französische Sprache aus dem Land zu verdrängen, blie-
ben relativ erfolglos. Reines Französisch hingegen gilt als
typisches Kennzeichen der gebildeten Oberschicht.
Im November 1987 setzte General Ben Ali als am-
tierender Ministerpräsident den langjährigen Staatspräsi-
denten Bourguiba mit der Begründung ab, dieser sei „senil“.
Dabei wurde er von einer breiten Mehrheit des politischen
Spektrums unterstützt. Der unblutige Putsch wurde als
„Jasminrevolution“ bezeichnet – ein Begriff, den sich auch
die Demonstranten von 2011 zu eigen machten, um damit
die Souveränität des Volkes im „Land des Jasmins“ zu un-
terstreichen.
Sowohl in der Ära Bourguiba als auch unter Ben
Ali wurden zwei Kräfte Tunesiens systematisch unter-
drückt, die sich später als schärfste Widersacher des Systems
herausstellen sollten: die Gewerkschaften
16
und der politi-
sche Islam.
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Bourguiba verabschiedete zahlreiche Refor-
men, die den Einfluss der Religion auf das öffentliche Le-
ben einschränkten. Islamistische Gruppierungen wurden
vom politischen Prozess ausgeschlossen, Koranschulen
wurden verstaatlicht. Nach der Machtübernahme Ben Alis,
der zunächst einen weniger autoritären Führungsstil als sein
Vorgänger pflegte, wurden einige inhaftierte Oppositionel-
le freigelassen. Mit dem drohenden Beispiel des Nachbar-
lands Algerien konfrontiert, wo infolge des Wahlsiegs der
Islamisten Ende 1991 ein Bürgerkrieg ausbrach, der die
herrschenden Machtverhältnisse infrage stellte, wurde Tu-
nesien zunehmend autokratisch regiert. Dass diese Ent-
wicklung des pro-europäischen, pro-amerikanischen Re-
gimes in der EU und den USA toleriert, ja aus Angst vor ei-
nem Erstarken des Islamismus sogar protegiert wurde,
18
gehört in die Reihe der wenig ruhmreichen Politiken des
„Westens“ gegenüber der arabischen Welt. Die systemati-
sche Unterdrückung der Opposition sollte sich 2011 ins Ge-
genteil verkehren, als in der ersten demokratischenWahl des
Landes das Volk genau diesen Kräften die größte Legitimi-
tät zusprach.
Im Vergleich zu anderen Staaten des Nahen Ostens
ist Tunesien mit seinen rund elf Millionen Einwohnern
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durch eine ausgesprochen homogene Gesellschaft gekenn-
zeichnet: 98 Prozent der Bevölkerung gelten als arabisch-
stämmig.
20
Nach offiziellen Angaben gehören 99,1 Prozent
der Tunesier und Tunesierinnen dem sunnitischen Islam
an.
21
Ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft entlang kon-
fessioneller oder ethnischer Linien kann demnach auch von
einer genau dies provozierenden Politik (wie sie beispiels-
weise im Zuge der Protestwelle in Syrien vom Assad-
Regime verfolgt wurde und wird), nicht herbeigeführt wer-
den. Vielmehr konzentriert sich der gesellschaftliche Kon-
flikt in Tunesien auf eine andere Ebene, insbesondere in Be-
zug auf die religiöse Überzeugung: Hier teilt sich die Ge-
sellschaft hinsichtlich der Auslegung des sunnitischen Islam
und konzentriert sich auf Fragen der Säkularität und der Be-
deutung der
„Shari’a“
(des islamischen Rechts) für das Ge-
meinwesen.
Stellung des Islam in Politik und
Gesellschaft
Entgegen der Wahrnehmung vieler europäischer Kommen-
tatoren, die die Vereinbarkeit von mehrheitlich muslimisch
bevölkerten Ländern und der Demokratie grundsätzlich in-
frage stellen,
22
ist die Trennung von Staat und Religion in
Tunesien ein durchaus bestimmendes Ideal: Mehr als zwei
Drittel der Tunesierinnen und Tunesier sind überzeugt, dass
Religion und Politik nicht vermischt werden sollten.
23
Eine
islamische Regierung befürworten mit Nachdruck lediglich
17 Prozent der Befragten.
24
Damit einhergehend präferiert
1...,41,42,43,44,45,46,47,48,49,50 52,53,54,55,56,57,58,59,60,61,...80
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