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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
„Dégage!“ – und dann?
63 Mohamed Bouazizi erlag seinen Verbrennungen am 4. Januar 2011. Fleischer (wie Anm. 16), S. 6.
64 Wörtlich wird in der Umfrage nach folgender Aussage gefragt, der 91 Prozent zustimmten: „Democracy may face problems but it’s better
than any other form of government.“ Moaddel (wie Anm. 3), S. 65.
65 Der Verfassungstext in deutscher Sprache (Übersetzung durch den Sprachendienst des Deutschen Bundestages):
[Stand: 11.02.2015].
66 Verglichen mit anderen Ländern der Region sprechen sich in Tunesien deutlich mehr Bürger/innen für eine Gleichstellung von Mann und
Frau aus. Auffällig ist, dass nach wie vor nur 26 Prozent Liebe als ausschlaggebenden Grund für eine Heirat sehen – im Vergleich zum Rat
der Eltern, den 56 Prozent befolgen würden. Dass eine Frau sich jedoch so anziehen sollte, wie sie möchte, sehen in keinem anderen Land
wie in Tunesien so viele als selbstverständlich an, vgl. Moaddel (wie Anm. 3), S. 6.
67 Werenfels (wie Anm. 3); Fleischer (wie Anm. 16), S. 2.
68 Zit. nach Tarek Amara: Tunisia approves new constitution, appoints government, in: Reuters, 26.01.2014,
-
cle/2014/01/27/tunisia-politics-idUSL5N0L00NY20140127 [Stand: 12.02.2015] [Übersetzung der Autorin K. M.].
69 Ausführliche Analyse bei Anna Antonakis-Nashif: Legitimitäts- und Verfassungskrise in Tunesien. Zuspitzung durch politische Morde und
die Entwicklungen in Ägypten, in: SWP Aktuell 49 (2013),
2013A49_ atk.pdf [Stand: 09.02.2015].
70 Milz (wie Anm. 13).
71 Werenfels (wie Anm. 2).
72 Johanne Kübler: Der neue Alte in Tunis, in: zenithonline, 08.01.2015,
-
alte-in-tunis-004329/ [Stand: 08.02.2015].
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Tunesiens Bürger waren sich in den Tagen vor der Flucht
Ben Alis einig:
„Dégage!“
(„Hau ab!“) war die Parole, der
die Demonstranten ohne jeden Vorbehalt zustimmten. Zu
groß war die Verärgerung im Volk über einen Diktator, der
die Symbolfigur des Protestes gegen das unterdrückerische
Regime kurz vor dessen Tod noch scheinheilig am Kran-
kenbett besuchte.
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Doch im Gegensatz zu manch anderen
arabischen Reformstaaten beschränkte sich diese Einigkeit
nicht nur auf den Sturz eines ungeliebten Despoten. Eine
überwältigende Mehrheit der Tunesier und Tunesierinnen
würde wohl dem Churchill’schen Credo beipflichten: „Die
Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausge-
nommen alle anderen.“
64
Wie diese jedoch in Tunesien zu
erreichen und zu gestalten ist, darüber wurde und wird im
Land gestritten.
Als eine der ersten Amtshandlungen der Über-
gangsregierung wurden die Verfassung als ungültig erklärt
und Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung
(ANC) angesetzt, die im Oktober 2011 stattfanden (s. o.).
Im Dezember wurde der Menschenrechtsaktivist Moncef
Marzouki für ein Jahr zum Präsidenten gewählt. Er er-
nannte Hamadi Jebali von der stärksten Partei
Ennahda
zum Premierminister. Ein Grundgesetz wurde verabschie-
det, das den Aufbau der Regierung regelte. Außerdem soll-
te es die Gewaltenteilung und Menschenrechte garantieren,
bis eine neue Verfassung in Kraft trat. Erst im Januar 2014
ratifizierten die Abgeordneten diese neue Verfassung.
65
Sie
nennt – entgegen der Forderung der tunesischen Islamisten
– den Islam nicht als Quelle der Gesetzgebung, sondern de-
finiert denWillen des Volkes als oberste Macht. Männer und
Frauen werden per Verfassung vor dem Gesetz gleichge-
stellt.
66
Die liberale Gestalt des konstitutionellen Textes
sucht in der arabischen Welt ihresgleichen.
67
„Diese Verfassung war der Traum der Tunesier. Diese Ver-
fassung ist der Beweis für eine Rückkehr der Revolution.
Diese Verfassung schafft eine demokratische Bürgerna-
tion“,
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fasste der ANC-Vorsitzende Mustapha Ben Jaafa
den Enthusiasmus am Tag der Ratifizierung in Worte. Der
Weg zu dieser Errungenschaft war steinig: Der
ANC
-Pro-
zess erlebte im Sommer 2013 eine veritable Krise, die aber
überwunden werden konnte.
69
Ende Juli hatten mehrere
dutzend Abgeordnete ihre Arbeit ausgesetzt. Erst Mitte
September kam es wieder zu einer Zusammenkunft. Debat-
tiert wurde in dieser Sitzung über Sport in der Grundschu-
le und Fischereigesetze – während tags zuvor wütende Pro-
teste gegen den Umgang der Regierung mit der Pressefrei-
heit das Land erschütterten.
70
Bis zur Ratifizierung der Verfassung mussten mit
Jebali und seinem Nachfolger Ali Larayedh auf öffentlichen
Druck nach der Ermordung der Oppositionspolitiker Be-
laïd und Brahmi zudem bereits zwei Premierminister zu-
rücktreten. Auch diese Ereignisse sind bemerkenswert:
Zum ersten Mal in der arabischen Welt verzichtete eine von
Islamisten dominierte Regierung „im nationalen Interesse“
auf die Macht. Das kann auch als Lehre aus dem Schicksal
der weniger kompromissbereiten Muslimbruderschaft in
Ägypten interpretiert werden.
71
Als Mohammed Mursi im
Juli 2013 aus dem Amt getrieben wurde, wurde die Organi-
sation von der Militärregierung massiv unterdrückt: Aus-
sichten, auf die man im tunesischen Islamismus gerne ver-
zichtete.
Der Ausnahmezustand, der in Tunesien seit dem
Januar 2011 galt, wurde im März 2014 von Präsident Mar-
zouki
aufgehoben.
Im
Oktober
und
November
2014
schließlich stimmte das Land über das neue Parlament und
einen neuen Präsidenten ab. Die regierende
Ennahda
muss-
te dabei große Stimmeneinbußen hinnehmen, die Wahlbe-
teiligung war im Vergleich zu 2011 von 52 auf 39 Prozent
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