Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 62

Salafismus – eine Einordnung
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Einsichten und Perspektiven 1 | 15
mierende[n] Schutzschildes für [ihre] Handlungen“ zu be-
dienen.
1
Diese Argumentation kann als Missbrauchsvor-
wurf verstanden werden. Demnach wird der Islam in einer
kalkulierten und strategischen Weise instrumentalisiert, um
Macht zu erlangen bzw. Machtpositionen zu reproduzieren.
In deutlicher Abgrenzung zu dieser Sichtweise
gründet das Gegenargument der „komplementären“ Per-
spektive auf der grundsätzlichen Annahme, dass „der Islam
keine Trennung zwischen einer sakralen und profanen
Sphäre“ kenne.
2
Gott „hat den Menschen, dem die Schöp-
fung anvertraut wurde, im Koran Regeln mit auf dem Weg
gegeben, wie er mit dieser Welt umzugehen hat. […] [S]eine
Anweisungen sind rational und dienen den Interessen der
Menschen […] und dem Aufbau ausgewogener sozialer Be-
ziehungen auf der Basis von Gerechtigkeit (
adala
) und
Recht (
haqq
), der gegenseitigen sozialen Verantwortung
(
takaful ijtima’i
) und der Menschenwürde (
karama
). Ge-
nauso wenig wie Religion und Alltagsleben nach islami-
schen Vorstellungen zu trennen sind, lässt sich die Religion
von der Politik trennen, ist die Politik doch nur ein Bereich
der Organisation gesellschaftlichen Zusammenlebens.“
3
In
diesem Sinne sind auch zahlreiche Debatten des innerisla-
mischen Diskurses formuliert. Diese sind deutlich politi-
scher Natur. Dabei werden beispielsweise Fragen zu Regie-
rung und Herrschaft, Fragen zum Recht oder Fragen zu
Machtbeziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten
diskutiert.
4
Für den vorliegenden Beitrag wird eine „komple-
mentäre“ Sichtweise auf den Islamismus eingenommen, die
von der Verschmelzung von Religion und Politik ausgeht.
Demnach bezeichnet der Begriff Islamismus eine Ansamm-
lung heterogener ideologischer und weltanschaulicher An-
sätze sowie Bestrebungen, die sich aus dem Islam ableiten
lassen.
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Dieser systematische politische Aktivismus des Is-
lam ist eine moderne Erscheinungsform, die am Ende des
19.
Jahrhunderts entstand und sich bis heute weiter ausdif-
ferenzieren konnte. Ihm zufolge dient die Religion nicht der
schieren Machtausübung, islamische Herrschaft – verstan-
den als legitime Machtausübung – dient primär der Etablie-
rung islamischer Ordnung – in Staat und Gesellschaft. Da-
bei wird die
Scharia
6
als
die
Rechtsquelle islamischer Ord-
nung angesehen. An dieser Stelle ist es aber wichtig, darauf
hinzuweisen, dass keine einheitliche oder konsensuale ju-
ristische Auseinandersetzung mit der
Scharia
existiert. Die-
se Uneinheitlichkeit ist Ausdruck der Heterogenität des Is-
lam, die nicht nur im Hinblick auf die konfessionelle Tei-
lung zwischen Sunniten, Schiiten und Kharijiten bestimmt
ist, sondern auch im Hinblick auf die innerkonfessionelle
Differenzierung. So lassen sich beispielsweise in der sunni-
tischen Konfession – die quantitativ größte islamische Kon-
fession – vier distinkte Rechtsschulen unterscheiden, die seit
dem 9. Jahrhundert ausschließlich für die Interpretation von
Koran und
Sunna/Hadith
-Sammlungen vorgesehen sind.
Diese vier Rechtsschulen zeigen zum Teil fundamentale
Unterschiede hinsichtlich juristischer Grundsatzfragen zur
Lesart und Auslegung der Rechtquellen – Koran und
Sun-
na/Hadith
-Sammlungen.
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Diese heterogene Ausprägung der islamischen Re-
ligion ist im Islamismus ebenfalls deutlich. So wird nicht nur
zwischen schiitischen
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und sunnitischen Islamismen unter-
1
Nazih Ayubi: Politischer Islam. Religion und Politik in der arabischen Welt, Freiburg/Basel/Wien 2002, S. 16 u. 174.
2
Ivesa Lübben: Welche Rolle für den Islam?, in: Arabellions. Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen und Mittleren Osten und
Nordafrika, hg.von Annette Jünemann/Anja Zorob, Wiesbaden 2013, S. 281.
3
Ebd., S. 281 f.
4
Tamim Al-Barghouti: The Umma and the Dawla. The Nation State and the Arab Middle East, London 2008, S. 7.
5
Till Seidensticker: Islamismus. Geschichte, Vordenker, Organisationen,
2
München 2014, S. 9.
6
Scharia
bezeichnet die islamische Rechtsordnung und begründet damit die islamische Jurisprudenz (
fiqh
). Die Hauptkomponenten der
Scharia
sind 1. Der Koran und 2. Die
Sunna/Hadith
. Der Koran ist im Islam das Wort Gottes, das widerspruchsfrei sowie unfehlbar ist.
Gemäß dem Islam ist es das letzte Offenbarungsbuch, „das Gott dem Propheten Muhammad (570 – 632) durch den Engel Gabriel übermit-
teln ließ. […] [Der Koran] wurde im Laufe der Tage vorgetragen und enthält Predigten, Ermahnungen, Prophetengeschichten, Auseinan-
dersetzungen mit Ungläubigen und Juden und Christen. Er verkündet Antworten und gibt Verordnungen bekannt […].“ Adel Khoury:
Der Islam. Sein Glaube, seine Lebensordnung, sein Anspruch,
6
Freiburg im Breisgau 2001, S. 36. Die
Sunna
ist „der vorbildliche Weg des
Propheten Muhammad, dessen Hauptaufgabe darin bestand, die göttliche Offenbarung zu verkünden. […] [D]ie Art und Weise wie Mu-
hammad inmitten seiner Gemeinde lebte und seine Pflichten als vorbildlicher Muslim erfüllte, wie er die Gläubigen auf den Weg Gottes
führte und die erforderlichen Regeln festlegte […].“ Khoury (s. o.), S. 42. Dieser Weg oder diese Tradition Muhammads (die
Sunna
) wird im
Hadith
(„Berichte und Erzählungen von und über Muhammad“) wiedergegeben. Die
Scharia
als Rechtsordnung im schiitischen Kontext
gründet ebenfalls auf den Koran, die
Hadith
-Sammlungen werden zusätzlich durch Aussprüche der Imame, die als legitime Nachfolger
Muhammads erachtet werden, ergänzt.
7
Die vier Schulen sind 1. die Malikitische Rechtsschule (
malikiya
); 2. die hanafitische Rechtsschule (
hanafiya
); 3. die schafiitische Rechts-
schule (
schafiiya
); 4. die hambalitische Rechtsschule (
hambaliya
). Die wesentlichen Streitfragen innerhalb der verschiedenen Ausrichtungen
handeln von Fragen zur Wichtigkeit konsensualer Entscheidungen (
malikiya
), der Möglichkeit von Entscheidungsfreiheit und dezisionisti-
scher Urteile (
hanafiya
), von rationalen Argumentationen und widerspruchsfreien Analogieschlüssen sowie einer Höhergewichtung der
Sunna/Hadith
-Sammlungen (
schafiiya
) und die literalistische Auslegung von Koran und
Sunna
(
hambaliya
). Hans Küng: Der Islam. Ge-
schichte, Gegenwart, Zukunft,
4
München/Zürich 2004, S. 336–343.
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Beispiele des schiitischen Islamismus sind die libanesische Partei Hizbullah oder die irakische Dawa-Partei. Als eine wesentliche ideologi-
sche Grundlage für viele schiitisch-islamistische Gruppen dient der Ansatz von Ruhollah Chomeini. Die Lehre von „der Herrschaft des
Rechtsgelehrten“ prägt im Iran das politische System.
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