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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
Erste Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung nach der Krise des ANC-Prozesses im Sommer, Tunis, 17. September 2013
Foto: Kristina Milz
25 Ebd., S. 72.
26 Mit 37 Prozent der Stimmen die mit Abstand erfolgreichste Partei. National Democratic Institute: Final Report on the Tunisian Constitu-
ent Assembly Elections, Washington 2011, S. 19,
[Stand: 11.02.2015].
27 So argumentiert auch Nouri Gana: Introduction: Collaborative Revolutionism, in: Nouri Gana (Hrsg.): The Making of the Tunisian Revo-
lution. Contexts, Architects, Prospects, Edinburgh 2013, S. 1–31.
28 National Democratic Institute (wie Anm. 26).
29
Fleischer (wie Anm. 16), S. 7.
30 Werenfels (wie Anm. 2).
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nahezu die gleiche Anzahl an Befragten Politiker, die stren-
ge islamische Überzeugungen haben, gegenüber Politikern,
die sich auf „nationale Interessen“ beschränken.
25
Angesichts dieser Befunde erscheint der überwälti-
gende Wahlsieg der islamistischen
Ennahda
im Oktober
2011 in der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung
26
zunächst erklärungsbedürftig. Der Widerspruch löst sich
durch einen Blick auf die Geschichte Tunesiens auf: Ge-
wählt wurden insbesondere solche Parteien und Politiker,
die eine politische Vergangenheit als oppositionelle Kraft
gegen das Ben-Ali-Regime vorzuweisen hatten.
27
Die bei-
den späteren Koalitionspartner der
Ennahda
– CPR (mit 8,7
Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft) und
Ettakatol
(7
Prozent)
28
sind säkular orientierte Mitte-Links-Parteien.
Ettakatol
, die sich der Korruptionsbekämpfung und Trans-
parenz im politischen Prozess verschrieben hat, wurde be-
reits 1994 gegründet, aber erst 2001 rechtlich anerkannt; die
Bürgerrechtspartei CPR wurde 2001 gegründet und bereits
im darauffolgenden Jahr wieder verboten.
29
Zudem darf nicht vergessen werden: Die
Ennahda
-
Partei war im Vergleich zu anderen islamistischen Parteien
in Nahost bezüglich ihrer Einstellungen zur gesellschaftli-
chen und politischen Ordnung immer schon progressiver
und toleranter; dies gilt insbesondere auch im Vergleich zur
ägyptischen Muslimbruderschaft.
30
Der Oberbegriff „Isla-
mismus“ bezeichnet zunächst lediglich das Phänomen eines
„politischen Islam“ und kann daher von moderaten Bewe-
gungen wie der
Ennahda
hin zu terroristischen Vereinigun-
gen Unterschiedliches, wenn nicht sogar Gegensätzliches
meinen.
Die überwiegend säkulare Orientierung der tune-
sischen Gesellschaft bedeutet keine Abwendung der Men-
schen vom Glauben: Auf die Frage nach identitätsbestim-
menden Merkmalen sieht sich deutlich mehr als die Hälfte
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