Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 44

Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
noch einer übrig. Vorgestern sagte der Bürgermeister, dass
jeder die Stadt verlassen muss und dass Würzburg zur toten
Stadt erklärt wird; nur wer wichtige Arbeiten verrichtet und
hier bleiben muss, erhält besondere Lebensmittelmarken.
Andere bekommen gar keine Rationen mehr. Was sollen wir
also machen?
Wir sind fest entschlossen dazubleiben. Flucht ist
zwecklos. Allerdings haben wir nur noch wenige Kartof-
feln, ein Glas Marmelade und etwas Tomatenmark. Sicher
haben die Leute auf dem Bauernhof in der Nähe genug zu
essen, aber sie haben uns nicht angeboten, mit uns zu teilen.
Wie hungrig wir auch sein mögen, Mutti ist unerbittlich. Sie
sagt, dass es besser ist, wenig zu haben als gar nichts. Mit-
tags und abends gibt es gewohnlich ein oder zwei gekochte
Kartoffeln für jeden und manchmal ein wenig von unserem
schnell zu Ende gehenden Vorrat an Tomatenmark. Etwa ei-
ne Stunde nach dem Essen hat man wieder gewaltigen Hun-
ger, und dann, nach einer weiteren Stunde, ebben die Ma-
genschmerzen ab und man merkt nicht mehr, wie hungrig
man ist.“
Donnerstag, 5. April 1945.
„Immer noch wird um Würzurg gekämpft. Die deutschen
Soldaten haben auf unserer Seite des Flusses keinen Wider-
stand geleistet. Viel zu spät begannen sie, ihre Verteidi-
gungsstellungen einzurichten. Sie verließen die halbfertigen
Schützengräben, flohen auf die andere Seite des Mains und
jagten die Brücken hinter sich in die Luft. Von unseremHü-
gel aus sahen wir, wie die Amerikaner sofort begannen, ei-
ne der Brücken zu reparieren. Es dauerte weniger als eine
Stunde und sie überquerten den Fluss.
Den ganzen Tag feuert schon Artillerie über uns
und wir sehen die Explosionen in der Stadt. Die amerikani-
schen Geschütze sind so nah, dass alles bebt. Wir sehen zwei
ihrer Panzer im nächsten Feld. Die Granaten pfeifen über
das Dach unserer kleinen Hütte. Ich bin zu aufgeregt um
weiterzuschreiben.“
Dienstag, 10. April 1945.
„In diesen fünfeinhalb Kriegsjahren habe ich oft versucht
mir vorzustellen, wie es sein würde, wenn die Alliierten in
unsere Stadt kommen. Natürlich haben wir nie an die Mög-
lichkeit gedacht, dass der Krieg so lange dauert und dass um
Würzburg gekämpft wird; wir stellten uns vor, dass alles viel
ruhiger ablaufen würde. Jedenfalls sind die Alliierten jetzt
hier. Sechs amerikanische Soldaten lagen ziemlich nahe bei
unserer Hütte in Stellung und kamen, um mit uns zu reden,
obwohl ihnen das, wie sie uns sagten, verboten war. Wie
überrascht sie waren, Menschen zu finden, die Englisch
sprechen. Wir hatten ein Munitionslager entdeckt und er-
zählten ihnen davon und gingen mit ihnen hin. Wir fanden
dort auch einen riesigen Haufen altes Brot. Wir nahmen
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Schon die Luftangriffe im Februar 1945 fügen der Würzburger
Altstadt schwere Schäden zu. Das Foto zeigt die Domstraße nach
der Bombardierung am 19. Februar.
Foto: Stadtarchiv Würzburg
blind und raubte uns den Atem. Alles was wir sahen, waren
Ruinen und zwischen den Ruinen lagen die versengten und
verbrannten Körper von Menschen, geschrumpft auf die
Größe von kleinen Kindern, so entstellt, dass keiner sie hät-
te erkennen können. In einer schmalen Straße mussten wir
über die Leichen steigen um vorwärts zu kommen. Ingrid
schrie vor Entsetzen und sie wäre stehengeblieben, wenn
wir sie nicht mitgezerrt hätten. Diese Menschen müssen
ganz unvorstellbar gelitten haben, als sie fliehen wollten und
merkten, dass sie nicht weiterkamen, weil das Feuer sie von
allen Seiten einschloss.“
Sonntag, 25. März 1945.
„Wir stehen vor einem großen Problem: Wir haben nichts
mehr zu essen. Seit dem Luftangriff gibt es keine Geschäfte
mehr in Würzburg. Vor einigen Tagen erhielten wir einige
Laibe Brot von einer Nazi-Wohlfahrtsstelle, jetzt ist nur
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