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Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
‚Breathes there a man, with soul so dead,
Who never to himself hath said,
This is my own, my native land?‘
(‚Gibt es einen Menschen, mit toter Seele, / der niemals zu
sich selber sagte, / Ist dies mein Land, mein eignes Land?‘)
Auch ich sage, ‚Ist dies mein eignes Land?‘ Ko
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nnte ich doch
nur einmal Stolz und Glu
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ck empfinden, wenn ich es sage!
Stattdessen ist mein Herz von Scham erfu
Japanische Mahlzeit bei den Koerbers im Jahr 1944 in Würzburg.
Links die Mutter Louise Koerber, vorne Ortrun. Die Gäste sit-
zen, wie in Japan üblich, auf dem Boden.
Quelle: Ortrun Scheumann, Bad Dürkheim
dann die Gestapo. Die Studenten wurden verhaftet und et-
wa zehn Tage später enthauptet. Das Mädchen war erst 21,
ihr Bruder zwei Jahre älter. Wie jung sie waren, als sie star-
ben! Und wie tapfer sie waren!“
Montag, 4. Oktober 1943.
„Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habe, dass ich nicht
mehr zu BDM-Treffen gehe. Vor einigen Jahren wurde in
Würzburg ein Orchester der Hitlerjugend gegründet. Als
ich davon erfuhr, beschloss ich hinzugehen und zu fragen,
ob sie mich aufnehmen, obwohl ich keine besonders gute
Cellospielerin bin. Ich hatte erfahren, dass die Mitglieder
des Orchesters nicht an Treffen des BDM oder der Hitler-
jugend teilnehmen müssen. Musik ist so viel schöner als Re-
den über Politik und Versammlungen!
Ich durfte dem Orchester beitreten und ein ganzes
Jahr nahm ich an den wöchentlichen Proben teil. Das war
übrigens ganz nett. Wir spielten einige der leichteren Sym-
phonien vonHaydn undMozart. Gelegentlich fanden Kon-
zerte in Würzburg und Orten in der Umgebung statt.
Unser Dirigent war ein Musiklehrer von einer
Würzburger Schule. Ich bin sicher, dass er kein Nazi ist,
denn er sagte, dass wir unsere Uniformen zu den Proben
nicht tragen müssten. Und er sagte immer ‚Guten Abend‘
statt ‚Heil Hitler‘. Vor zwei Monaten musste er uns verlas-
sen und an die russische Front, und weil niemand da ist, der
seinen Platz einnehmen kann, existiert das Orchester nicht
mehr. Die Leitung der Hitlerjugend wurde offensichtlich
nicht informiert, denn keiner von uns hat seitdem etwas von
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Hier irrt Ortrun: Die Pflicht, den sog. „Judenstern“ zu tragen, wurde bereits im September 1941 eingeführt, vgl. Die Tödliche Utopie (wie
Anm. 1), S. 385 ff.
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Gemeint sind Sophie und Hans Scholl, sowie Christoph Probst, die am 22. Februar 1943 hingerichtet wurden, vgl. Die Tödliche Utopie
(wie Anm. 1), S. 475 ff.
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llt, wenn ich sehe,
wie unwu
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rdig sich das Volk verhält, dem ich angehöre.“
Donnerstag, 10. Dezember 1942.
„Ein fürchterlicher Schatten hängt drohend über dieser
vierten Kriegsweihnacht. Es ist so unmenschlich, dass ich
kaum darüber schreiben kann. Vor etwa sechs Monaten
zwangen die Nazis alle Juden, gelbe Sterne mit der Auf-
schrift ‚Jude‘ an ihre Kleidung zu nähen. Auf diese Weise
konnte jeder einen Juden sofort erkennen.
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Diese armen
Menschen erhielten noch weniger Lebensmittel als wir. In
den meisten Geschäften durften sie nicht mehr einkaufen
und die Parkbänke trugen gewöhnlich Schilder mit der Auf-
schrift ‚Für Juden verboten‘. Am Eingang zu Gaststätten,
Büchereien oder Konzertsälen waren Schilder, die Juden
den Eintritt untersagten.
Seit einiger Zeit sehe ich keine Juden mehr in den
Straßen und das jüdische Altersheim ist jetzt mit Deutschen
belegt. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie alle gekommen
waren und war schrecklich schockiert, als ich hörte, dass
alle Juden, die in Deutschland leben, nach Polen geschickt
wurden, wo sie mit Tausenden von polnischen Juden –Män-
nern, Frauen und Kindern – getötet werden sollen! Ist das
möglich? Es ist so grausam, so unglaublich grausam! Ich
dachte nicht, dass sogar die Nazis so etwas tun könnten.
Gibt es denn gar nichts, das wir unternehmen könnten, um
zu helfen? Oh, wie furchtbar sinnlos unsere Tränen sind!“
Freitag, 26. Februar 1943.
„Drei Studenten der Münchner Universität, ein Mädchen,
ihr Bruder und einer ihrer Freunde, wurden vor einigen Ta-
gen enthauptet!
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Sie hatten heimlich Flugblätter gedruckt
und in mehreren bayerischen Städten verteilt. Sie hatten
auchAnti-Nazi-Sprüche auf Gehsteige und an die Türen öf-
fentlicher Gebäude geschrieben. Vor etwa zwei Wochen
gingen sie in der Dunkelheit mit einem Koffer voller Flug-
blätter zur Universität. Sie verstreuten sie in den Gängen
und legten sie auf Stühle und Schreibtische. Aber der Haus-
meister hatte sie gesehen. Er verschloss die Türen, so dass
sie das Gebäude nicht verlassen konnten und alarmierte
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