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Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
Einsichten und Perspektiven 1 | 15
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Josef Koerber mit den Töchtern Ortrun (rechts) und Ingeborg
1935 in Japan
Quelle: Ortrun Scheumann, Bad Dürkheim
Okayama, Sonntag, 19. Februar 1939.
„Heute ist mir plötzlich klar geworden, wie bald wir von
hier weggehen. Oh, ich bin so unglücklich. Ich glaube nicht,
dass sie verstehen, wie leidenschaftlich ich diesen Ort liebe.
Vati, Mutti und Ingeborg machen Pläne für die Heimreise
und fu
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r das Leben in Deutschland. Sie wollen nicht gehen,
aber es scheint ihnen nicht so viel auszumachen. Und ich lie-
be Okayama von ganzem Herzen und kann den Abschied
nicht ertragen!“
Im Zug, Ostersonntag, 9. April 1939.
„Wir sind im Zug von Harbin in die Mandschurei. Wir reis-
ten von Mukden nach Harbin, eine ziemlich schöne Stadt.
Es gibt viele Russen hier, sogar russische Bettler. Es tat mir
leid, sie zu sehen, wahrscheinlich weil wir nicht daran ge-
wöhnt sind, arme Weiße zu sehen. In Japan gab es keine.“
Berlin, Mittwoch, 19. April 1939.
„Wir sind in Deutschland und die erste Nacht auf deut-
schem Boden ist vorbei. Vati wartet auf Nachricht vom Er-
ziehungsministerium, wo er unterrichten soll. Es ist ein ko-
misches Gefühl, nicht einmal den Namen der Stadt zu wis-
sen, in der wir leben werden.
Morgen ist Hitlers 50. Geburtstag. Alle Häuser
sind mit Fahnen geschmückt. In jedem Schaufenster sind
Hitlerbilder, in goldenen Rahmen und von Blumen umge-
ben. Auf der Friedrichstraße sahen wir eine Menschenmen-
ge vor einem Schaufenster stehen. Wir gingen hin, um zu se-
hen, was los war, denn die Leute schienen so erregt. Sie reg-
ten sich auf, denn das Hitlerbild im Fenster war ziemlich
hässlich. Schließlich kam der Geschäftsführer des Ladens
heraus und sagte, dass das Porträt sofort entfernt würde.“
Berlin, Donnerstag, 20. April 1939.
„Gestern Abend gingen wir alle zum Fackelzug. Tausende
waren auf der Straße. Spa
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ter gingen wir zur Reichskanzlei.
Dort schrie die Menge ‚Heil, Heil!‘. Gerade als wir umkeh-
ren wollten, begannen alle mit neuer Kraft zu rufen. Wir
drehten uns um und sahen, wie Hitler auf den Balkon trat.
Heute Morgen gingen Vati, meine Schwester Ingeborg und
ich zur Parade. Tausende und Abertausende von Menschen
säumten die Straßen. Die Parade bestand aus Kriegsgerät:
Panzer, Kanonen, Gewehre und viele Flugzeuge. Die Pro-
minenten, Hitler, Göring, Botschafter vieler Länder und
Militärattachés in Galauniformen, standen auf einem Podi-
um voller Fahnen. Es sah sehr eindrucksvoll aus.“
Würzburg, Montag, 24. April 1939.
„Nach neunstündiger Fahrt kamen wir inWu
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rzburg an, un-
serer zukünftigen Heimat. Sofort machten sich Vati, Mutti
und Ingeborg auf, um nach einer Wohnung für uns zu su-
chen; währenddessen wartete ich im Park mit der kleinen
Ingrid. Wir leben jetzt in zwei Räumen einer Pension. Ich
hoffe sehr, dass wir bald eine richtige Wohnung finden. Im
Zug wunderten sich alle über uns, denn Vati und Mutti un-
terhielten sich auf Deutsch, Ingeborg und ich auf Englisch,
und da die kleine Ingrid keine andere Sprache als Japanisch
spricht, mussten wir mit ihr Japanisch reden.“
Sonntag, 30. April 1939.
„Ingeborg und ich sind dem BDM
1
beigetreten, einer staat-
lichen Organisation für Mädchen. Alle Mädchen müssen
1
Im „Bund Deutscher Mädel“ waren alle 14- bis 21-jährigen Mädchen unter der Dachorganisation der Hitlerjugend organisiert, außer dieje-
nigen, die den nationalsozialistischen „Rassekriterien“ nicht genügten, vgl. etwa Die tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum
Dritten Reich, hg. v. Volker Dahm, Albert A. Feiber, Hartmut Mehringer und Horst Möller, München 2008, S.273 f. (Veröffentlichungen
des Instituts für Zeitgeschichte zur Dokumentation Obersalzberg).
Das Tagebuch der
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