Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 26

Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)
3 Kurt Fricke, Die Justizvollzugsanstalt „Roter Ochse“ Halle/Saale 1933–1945. Eine Dokumentation, Gedenkstätten und Gedenkstättenar-
beit im Land Sachsen-Anhalt, Heft 3, Magdeburg 1997; Michael Viebig, Das Zuchthaus Halle/Saale als Richtstätte der nationalsozialisti-
schen Justiz (1942 – 1945), Gedenkstätten und Gedenkstättenarbeit im Land Sachsen-Anhalt, Heft 5, Magdeburg 1998; Alexander Sperk,
Die MfS-Untersuchungshaftanstalt „Roter Ochse“ Halle/Saale von 1950 bis 1989. Eine Dokumentation, Gedenkstätten und Gedenkstät-
tenarbeit im Land Sachsen-Anhalt, Heft 4, Magdeburg 1998.
4 Katalog zu den Dauerausstellungen: Daniel Bohse und Alexander Sperk (Bearb.), Der ROTE OCHSE Halle (Saale). Politische Justiz
1933–1945 und 1945–1989, Berlin 2008.
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meisten galten eher als potentielle Gegner der neu entste-
henden Ordnung.
Im Februar 1995 setzen Recherchen ein, mit Hilfe
derer die Eckpunkte der historischen Entwicklung heraus-
gearbeitet, die Quellenlage analysiert und die Möglichkei-
ten zukünftiger konkreter Gedenkstättenarbeit benannt
wurden. Daneben erfolgte eine Beräumung des Gebäudes
selbst, das seit 1990 für die Einlagerung von nicht mehr be-
nötigtem Inventar aus dem zu DDR-Zeiten als Frauenhaft-
anstalt genutzten Teil des „Roten Ochsen“ hatte herhalten
müssen. Bereits ein Jahr später – am 15. Februar 1996 – er-
öffnete der damalige Innenminister des Landes Sachsen-
Anhalt, Dr. Manfred Püchel, eine erste provisorische Dau-
erausstellung. Auf etwa 20 Tafeln in drei Zellen im ersten
Obergeschoss des Gebäudes versuchte die Ausstellung
Baugeschichte, die Nutzung durch die NS-Justiz, die Ein-
richtung der Richtstätte sowie die Internierungs- und
Spruchpraxis der sowjetischen Besatzungsmacht und MfS-
Untersuchungshaft zu dokumentieren. Wenig später er-
schienen wesentliche Forschungsergebnisse in Form einer
kleinen Publikationsreihe.
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Die permanent erweiterte For-
schung zur Geschichte des Ortes, seiner Insassen sowie der
Behörden, die ihm die Gefangenen zugeführt hatten, mün-
dete Anfang der 2000er Jahre in der Entscheidung, das ge-
samte Gebäude zu einer Gedenkstätte auszubauen und
nicht nur die wenigen Räume zu nutzen, die bis dahin zur
Verfügung standen. Diese Entscheidung ging einher mit
zwei weiteren wichtigen Sachverhalten: dem schlechten
baulichen Zustand des Gebäudes, der eine weitere öffentli-
che Nutzung nicht mehr zuließ – und der erst seit 1998 auch
mit Originalquellen belegte Aspekt, dass es sich bei dem
Gedenkstättengebäude nicht „nur“ um das Vernehmerge-
bäude des MfS, sondern zugleich um das Hinrichtungsge-
bäude der Nazis gehandelt hatte. Wenig später konnte dieser
Befund auch bauarchäologisch nachgewiesen werden, als
unter den Fliesen eines als Wäscherei genutzten Raumes das
Fundament der Guillotine, die bis April 1945 dort gestan-
den hatte, und nach dem Krieg vermauerte Türfüllungen
und Fenster wieder freigelegt werden konnten. Die Nut-
zung des Hauses als Vernehmergebäude des MfS war dage-
gen von der Gebäudestruktur und anhand des vorhandenen
Inventars relativ leicht nachzuvollziehen, hatte es doch nach
dem Abzug der Stasi im März 1990 keine Veränderungen
mehr gegeben.
Die Neuerarbeitung der Dauerausstellungen in der Ge-
denkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale) erfolgte durch
eine Gruppe wissenschaftlicher Mitarbeiter unter Leitung
des damaligen Referatsleiters Gedenkstätten beim Landes-
verwaltungsamt, Dr. LutzMiehe. Am 15. Februar 2006 – ge-
nau zehn Jahre nach Eröffnung des „Provisoriums“ – konn-
te Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer der Öffentlich-
keit zwei Dauerausstellungen übergeben, die sich über
insgesamt drei Etagen des Hauses erstrecken und die unter-
schiedlichen Facetten politischer Justiz dokumentieren.
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Die Umgestaltung des Gebäudes sowie die Erarbeitung der
Dauerausstellungen finanzierten zu gleichen Teilen die
Bundesregierung sowie das Land Sachsen-Anhalt. Einen
großen Beitrag leistete darüber hinaus die Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Umbau selbst er-
folgte unter strikter Beachtung denkmalpflegerischer As-
pekte und verbindet die historische Nutzungsabfolge der
einzelner Gebäudeteile und Etagenmit den dort jeweils prä-
sentierten Ausstellungsinhalten. Daneben galt es von Be-
ginn an zu berücksichtigen, dass der Schwerpunkt zukünf-
tiger Gedenkstättenarbeit neben Räumen für die Doku-
mentation der Geschichte vor allem Platz für pädagogische
und andere Öffentlichkeitsarbeit erfordern würde. Die da-
für notwendigen Räume sind aber ebenso Teil der „histori-
schen belasteten“ Bausubstanz, ein behutsamer Umgang
damit war also geboten.
Ein Jahr später wurde mit der Stiftung Gedenkstät-
ten Sachsen-Anhalt eine landeseigene Stiftung öffentlichen
Rechts mit dem gesetzlichen Auftrag gegründet, „durch ih-
re Arbeit dazu beizutragen, dass das Wissen um die einzig-
artigen Verbrechen während der nationalsozialistischen
Diktatur im Bewusstsein der Menschen bewahrt und weiter
getragen wird. Es ist ebenfalls Aufgabe der Stiftung, die
schweren Menschenrechtsverletzungen während der Zeiten
der sowjetischen Besatzung und der SED-Diktatur darzu-
stellen und hierüber Kenntnisse zu verbreiten.“
Grundlage der Arbeit der Stiftung sind der wissenschaftli-
che Forschungsstand und die fachlichen Standards der po-
litischen Bildung nach dem Beutelsbacher Konsens: 1. dass
nicht emotional überwältigt, sondern zu freier Urteilsbil-
dung befähigt werden soll, 2. dass Kontroverses auch kon-
trovers darzustellen ist, 3. dass mehrere Perspektiven auf ein
und denselben Gegenstand ermöglicht werden und dass 4.
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