Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 28

Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)
Gedenkstätte ROTER
OCHSE Halle (Saale), NS-
Ausstellung, Raum Gerichte,
Aufnahme 2006
Foto: Sammlung Gedenkstätte
ROTER OCHSE Halle (Saale)
mergericht und dem Volksgerichtshof sowie – stellver-
tretend für die Justiz der Wehrmacht – dem RKG. Die (re-
duzierte) Darstellung der Aufgabenfelder dieser Gerichte
wird über kurze Täter- und Verurteiltenschicksale realisiert
und mit originalen Filmsequenzen („Verräter vor dem
Volksgericht“, 1944) ergänzt. Der Raum zeigt, dass der NS-
Staat – ohne auf überkommene Strukturen zu verzichten –
eine parallele, auf seine diktatorischen Erfordernisse zuge-
schnittene Strafjustiz entwickelte, die mehr und mehr alle
wesentlichen Aufgaben der Strafverfolgung übernahm. Der
dritte Ausstellungsbereich umfasst die Dokumentation der
Richtstätte und der hier erzeugten Opfer. Ausgehend von
einfachen Informationen in einem im Hinrichtungsraum
hinterlegten Totenbuch, das nur Namen, Vornamen, Ge-
burts- und Sterbedaten enthält, nehmen die Informationen
in den folgenden Räumen zu: Welche Widerstandsgruppen
oder andere Verbindungen von Menschen gab es? Was ge-
schah mit den Leichen? Welche Lehr- und Forschungsein-
richtungen übernahmen „Material“? Welchen Verwaltungs-
schriftverkehr erzeugten Scharfrichter? Bedingt durch die
vorwiegend sehr kleinen Räume können die genannten
Themen sehr konzentriert und voneinander getrennt ange-
boten werden, ohne dennoch den Zusammenhang zu ver-
lieren. Der Übergang in den letzten Dokumentationsbe-
reich erfolgt durch die Präsentation großformatiger Fotos
von Frauen; Fotos, die in die ersten beiden Tage der Befrei-
ung durch U.S.-Truppen zu datieren sind und unverfälschte
Situationen darstellen. Bei einigen der abgebildeten Frauen
sind keine weiteren, als die durch den Fotografen auf der
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Rückseite der in amerikanischen Archiven aufbewahrten
Originalabzüge notierten Informationen bekannt. Andere
Frauen konnten identifiziert und ihre Schicksale in ver-
schiedene
Dokumentations-,
pädagogische
und
sogar
künstlerische Ebenen übertragen werden. So zeigt eines der
Fotos zwei alte Frauen, „zum Tode verurteilt wegen Le-
bensmitteldiebstahls“, wie es das Etikett ausweist. Eine der
Frauen konnte später identifiziert werden. Sie war bei
Kriegsende 72 Jahre alt und wurde für einen Diebstahl zum
Tode verurteilt, der ihr nicht nachgewiesen werden konnte
und den sie nicht zugegeben hatte. Die Recherchen der Ge-
denkstätte führten auch zu dem letzten Belastungszeugen
aus dem im Februar 1945 stattgefundenen Gerichtsverfah-
ren, einem damals acht Jahre alten Jungen. Seine Geschichte
und der Inhalt der Gerichtsakte führten zur Inszenierung
eines Theaterstückes, das am 17. April 2010, dem 65. Jahres-
tag der Befreiung auch dieser alten Frau – und der Entste-
hung des Fotos – in der Anstaltskirche der JVA Halle auf-
geführt wurde.
Die Ausstellung in der „NS-Etage“ ehrt die Opfer
durch Aufdeckung dessen, wie die Justiz und die mit ihr ver-
flochtenen Behörden mit ihnen verfuhren. Dies geschieht
vor allem durch die Darstellung der Tätigkeit von Richtern,
Staatsanwälten, Beamten des Strafvollzugs, Henkern, Stan-
desbeamten, Verwaltungsfachleuten, Anatomen, Rechts-
medizinern, Rasse- und Völkerkundlern, Durchführenden
von Medikamentenversuchen, Geistlichen, Dolmetschern,
Bestattungsunternehmern, Friedhofsarbeitern. Sie soll zei-
gen, wer alles beteiligt und wer Mitwisser war, wer manch-
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