Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 20

Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)
Nutzung während der NS-Diktatur
Zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Nationalsozialis-
ten fungierte der „Rote Ochse“ als Gefängnis, diente also
vorwiegend der Vollstreckung leichter und mittlerer Haft-
strafen. Die neue Regierung setzte jedoch bereits in den ers-
ten Wochen nach der Machtergreifung mit Hilfe von Son-
derverordnungen und Sondergerichten eine justizförmige
Verfolgung in Gang, die zunächst explizit der Ausschaltung
politischer Gegner diente. Dies ging einher mit der Tatsa-
che, dass die Justiz ihre Haftanstalten den Maßnahmen po-
lizeilicher Willkür – der Inschutzhaftnahme – zur Verfü-
gung stellte. Der „Rote Ochse“, dessen Gefangenenzahlen
durch die im Dezember 1932 erfolgte Weihnachtsamnestie
des Reichspräsidenten auf unter 500 gefallen war, hatte nach
dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 binnen kurzer
Zeit zahlreiche von der SA, der Polizei und Hilfspolizei
festgenommene Männer unterzubringen, für die keinerlei
richterliche Haftbefehle vorgelegt wurden. Diese Unter-
bringung war eine Folge der Massenverhaftungen in Halle
und der unmittelbaren Umgebung, aus der eine Überfül-
lung aller anderen Aufnahmemöglichkeiten im Polizei- und
dem Gerichtsgefängnis sowie den Reithallen der Reichs-
wehr-Kasernen in der Saalestadt resultierte. Die Einrich-
tung eines Schutzhaftlagers in der ehemaligen Strafanstalt
Lichtenburg im Sommer 1933 und die damit einhergehende
Überführung aller Schutzhäftlinge aus Halle in dieses Lager
bedeutete für den „Roten Ochsen“ die Rückkehr in seine
Funktion als Vollstreckungsort für gerichtlich festgelegte
Strafen. Doch geschah auch dies unter veränderten Vorzei-
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Vgl. dazu insbesondere Die Strafanstalten und Gefängnisse in Preußen. Erster Theil: Anstalten in der Verwaltung des Ministeriums des In-
nern. Im amtlichen Auftrage herausgegeben von Dr. jur. C. Krohne und R. Uber, Berlin 1901, S. 169-178. Der dazugehörige „Atlas“ enthält
auf den Blättern 41 und 42 einen Lageplan sowie Ansichten und Schnitte einzelner Gebäude nach dem Stand von 1900.
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nent damit beschäftigt sein, die eigene Straftat zu erkennen
und sein Tun zu hinterfragen, um sich anschließend bessern
zu können.
Noch während des 19. Jahrhunderts wurde der Ge-
bäudekomplex mehrfach erweitert und umgebaut. Ein vier-
tes Haftgebäude und ein Gefängnisfriedhof entstanden be-
reits als Folge der ersten großen Überfüllung der Anstalt
nach der Revolution von 1848/49, später folgten die Errich-
tung von Wirtschaftsgebäuden, einem Lazarett sowie der
Bau mehrerer Beamtenwohnhäuser auf dem Gelände und
an der Peripherie der Anlage. Die Belegfähigkeit stieg von
350 auf etwa 500 Gefangene an.
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Während der ersten Jahr-
zehnte des 20. Jahrhunderts diente eines der Hafthäuser als
„Weiberanstalt“, das Lazarett war zur selben Zeit um eine
als „Irrenanstalt“ bezeichnete Abteilung erweitert. Beide
Nutzungsepisoden – historisch gleichwohl sehr interessant
– waren bereits vor 1933 wieder beendet.
chen. Als eines der ersten Sondergerichte im Reich war das
Mitteldeutsche Sondergericht Halle bereits Anfang April
1933 arbeitsfähig und schickte Verurteilte in schnell steigen-
der Zahl in den „Roten Ochsen“.
Schon zu diesem Zeit-
punkt trat die Strafvollstreckung gegen Kriminelle in den
Hintergrund; der Anteil aus politischen oder rassischen
Gründen Verhafteter stieg stetig. Mit der Umwandlung der
Strafanstalt Halle im November 1935 in ein Zuchthaus und
dem daraus resultierenden Strafvollzug vor allem gegen
Männer, die wegen ihrer Gegnerschaft zumNS-System ver-
urteilt waren, manifestierte sich dieser Sachverhalt. So gehen
allein auf Strafverfahren des Kammergerichts Berlin, das ab
1935
in zahlreichen Land- und Amtsgerichten in Mittel-
deutschland tagte, weit über 1.200 Inhaftierungen von
Kommunisten, Sozialdemokraten und oppositionellen Ge-
werkschaftern zurück. Zur selben Zeit führte das Sonderge-
richt Halle zahlreiche Verfahren gegen Mitglieder der Glau-
bensgemeinschaft der Zeugen Jehovas, deren Zentrale in
Magdeburg lag und damit imZuständigkeitsbereich der hal-
leschen Behörde. Nachweisbar sind ebenso jüdische Gefan-
gene, wie der Arzt Dr. Gustav Flörsheim (geb. 1894), der
später in das Zuchthaus Brandenburg verlegt und von dort
Anfang 1943 „nach Auschwitz entlassen“ wurde, wie ein
Stempel auf dem Deckel seiner Gefangenenpersonalakte
dokumentiert.
Wenige Wochen nach Beginn des Zweiten Welt-
krieges gelangten die ersten ausländischen Gefangenen in
das Zuchthaus Halle, dessen Aufnahmekapazität auf 790
Gefangene erhöht worden war. Unter den durchschnittlich
bis zu 1.200 Gefangenen, die sich gleichzeitig im Zuchthaus
und den Außenkommandos befanden, gehörten Männer
aus nahezu allen Ländern Europas. Sie dürften etwa die
Hälfte der Belegschaft ausgemacht haben, waren Kriegsge-
fangene und Zwangsarbeiter, die in „ihren“ Lagern gegen
Verordnungen und Anweisungen verstoßen hatten und des-
halb gerichtlich belangt worden waren. Die Urteile gegen
Deutsche wie Ausländer gingen in den meisten Fällen auf
Sondergerichte zurück, jedoch spielte der „Rote Ochse“
ebenso eine Rolle bei der Vollstreckung wehrmachtgericht-
licher Strafen. In den meisten Fällen verbüßten die Gefan-
genen die erstenMonate ihrer Haft in Einzelgewahrsamund
waren voneinander isoliert. Danach wurden sie ihren er-
lernten Berufen oder Haupttätigkeiten gemäß den zumeist
außerhalb der Anstalt befindlichen Arbeitskommandos
zugeteilt. Diese waren in fast allen großen Betrieben der
Umgebung zu finden, darüber hinaus im Schleusen- und
Kanalbau, der die wirtschaftliche Nutzung der Saale sicher-
stellte und erweiterte. Kleinere Arbeitskommandos befan-
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