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Otto von Bismarck – Erblast und Erbe
Vorwürfe und Gegenargumente
Meineckes Frage ist von den ihm folgendenHistorikern und
Publizisten seither immer prononcierter und schneidender
beantwortet worden. Der Tenor der Ergebnisse, die ihre
Antworten zutage förderten, verdichtet sich in drei Argu-
menten und Anklagen an die Adresse Bismarcks.
Seine Berufung zumMinisterpräsidenten und Außenminis-
ter Preußens imHerbst 1862, so heißt es erstens, sei eine ver-
hängnisvolle und kardinale Weichenstellung in der deut-
schenGeschichte gewesen. Durch „Eisen und Blut“ undmit
einer „Revolution von oben“ habe Bismarck jenen auf Par-
lamentsherrschaft, Demokratisierung der Gesellschaft und
Entmachtung des Königtums nach britischemMuster ange-
legten Trend abrupt abgeschnitten.
Seine Politik habe zweitens die Büchse der Pandora
5
Zit. bei Schmidt (wie Anm. 3), S. 281.
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Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, S. 26.
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tung auch war, hatte das Volk der Deutschen gespalten. Hit-
ler dagegen hatte nach dieser Logik diese schwärende Wun-
de im nationalen Selbstverständnis durch die Heimholung
Österreichs und der Sudetendeutschen geschlossen und
Nation und Reich vollendet. Es lag ganz auf der Linie dieses
teleologischen Kontinuitätskonstruktes, wenn der Film
über „Die Entlassung“ Bismarck, bevor er im März 1890
seine Residenz in der Wilhelmstraße räumen musste, den
folgenschweren Schlusssatz in den Mund legte, der auf Hit-
ler vorauswies: „Wo ich heute stehe, ist nicht mehr entschei-
dend. Denn: Was mich überlebt, ist das Reich. Mein Reich.
Deutschland. Mein Werk ist getan. Es war nur ein Anfang.
Wer wird es vollenden?“
Statt Vollendung, stellten sich alsbald Gewalt,
Krieg, Völkermord und Zerstörung ein. Mit dem Reich Bis-
marcks versank auch der Mythos seines Gründers. Als die
Nemesis kam, da ging der Blick zurück und traf auf Bis-
marck, „die Schlange im Paradiese der Menschheit“, wie
Papst Pius IX. schon 1874 gesagt hatte.
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Jetzt wurde der
Kanzler vom Heros und Denkmal zum „Dämon der Deut-
schen“, zum Götzen, zum Versucher und Verderber, zum
Unglücksstifter für alles, was nach ihm kam.
Das begann schon ein Jahr nach demZweitenWelt-
krieg mit FriedrichMeineckes Buch über „Die deutsche Ka-
tastrophe“. „In der unmittelbaren Leistung Bismarcks
selbst“, so schrieb Meinecke und nach ihm unzählige ande-
re, „war etwas, das auf der Grenze zwischenHeilvollemund
Unheilvollem lag, und in seiner weiteren Entwicklung im-
mer mehr zum Unheilvollen hinüberwachsen sollte.“ Und
Meinecke warf die kardinale Frage auf, „ob nicht Keime des
späteren Unheils in ihm von vornherein wesenhaft steck-
ten?“
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geöffnet, aus der alles künftige Unglück entwichen sei: die
Konservierung antiquierter gesellschaftlicher Strukturen;
die Vorrangstellung der alten Eliten in Militär, Diplomatie
und Adel, die sich von der Moderne bedroht fühlten und
sich mehr und mehr in die Aggression, schließlich in den
Krieg flüchteten; die Disposition der Deutschen zum kritik-
losen Blick nach oben, ihre Untertanenmentalität und ihre
lange fortwirkende und in der Katastrophe endende Sehn-
sucht nach einem charismatischen Führer.
Und schließlich: die von Bismarck erdachte Verfas-
sung des Kaiserreiches hielt die demokratisch legitimierten
Parteien des Reichstages imVorhof derMacht fest. Die kon-
stitutionellen Dämme des starrsinnigen alten Kanzlers und
seine politischen Methoden der Ausgrenzung und Stigma-
tisierung ganzer Teile der deutschen Bevölkerung verhin-
derten die Einübung demokratischer Verfahrensweisen: den
Kompromiss, die Koalitionsbildung und eine von Vertre-
tern des Volkes kontrollierte Regierung aus dem Parlament.
Die Parteien, ja die Deutschen überhaupt, gingen demnach
in dem Bewusstsein ins 20. Jahrhundert, dass der ganze par-
lamentarische Betrieb suspekt sei, dass sein mühsames, zeit-
raubendes Ringen um den richtigen Weg „undeutsch“ sei.
Politik bestand seit Bismarcks Zeiten nicht in der Suche
nach Ausgleich, sondern in der Kunst der Feindbestim-
mung und der Konfrontation. So legte seine Regierungspra-
xis den Grundstein dafür, dass man sich, statt die Kraft zum
Konsens und zur Verhinderung der Diktatur aufzubringen,
lieber hinter eisern festgeklopften, programmatischen Posi-
tionen verschanzte und den parlamentarischen und politi-
schen Stellungskrieg in Permanenz praktizierte.
Beschreibt all dies, so muss man kritisch einwenden, das
Vermächtnis Bismarcks? Wird man seinem historischen
Wirken gerecht, wenn man das, was nach ihm kam, auf seine
Schultern lädt? Kann ein einzelner Mann, mag seine Strahl-
kraft und Geschichtsmächtigkeit noch so gewaltig sein, in
Haftung genommen werden für die Taten und das Schicksal
nach ihm kommender Generationen?
Unbezweifelbar ist, dass die Berufung von 1862 in
eine Entscheidungssituation der deutschen Geschichte fiel.
Bismarck gab ihr die Richtung in seinem Sinne: auf die Er-
haltung des monarchischen Obrigkeitsstaats hin. Aber ge-
nauso richtig ist, daß es nach 1890 noch viele Entschei-
dungssituationen und zentrale Wendepunkte gab, die über
das Wohl und Wehe der Nation entschieden, bevor sich der
Vorhang senkte. Man denke an den Funktionswandel und
die Gewichtsumkehr, die bei dem 1879 geschlossenen
„Zweibund“ mit Wien eintraten und die Bismarcks Nach-
folger sehenden Auges geschehen ließen. Bismarck hatte
stets davor gewarnt, sich von Österreich in das Minenfeld
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