Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 14

Otto von Bismarck – Erblast und Erbe
politik, für die Bismarck stand, eine stumpfe Waffe. Die zu-
nehmende Einschaltung der Öffentlichkeit in das politische
Geschäft, die Politisierung breiter Schichten und die Ein-
bindung ihrer Interessen ließ eine Massengefolgschaft zum
Machtfaktor in der Politik werden undmachte die Entschei-
dungsträger zum Medium der Volksseele. Sie atmeten die
Stimmung, die sie umgab, ein und strahlten sie wieder ab,
mochten sie Kaiser oder Kanzler, Reichspräsident oder
„Führer“ heißen.
Der sich radikalisierende, ungestüme Nationalis-
mus war ein flächendeckendes, nicht nur ein deutsches Phä-
nomen. Er konstituierte sich lange, bevor Bismarck die
Bühne betrat, und seine Mobilisierung vollzog sich in einem
Prozess der international induzierten Selbstaufladung im
agonalen europäischen Mächtesystem. Gesteuert und ange-
trieben wurde er nicht nur von handelnden Individuen, son-
dern vor allem von überpersönlichen Faktoren in Wirt-
schaft, Staatensystem und Gesellschaft. Diesen Strom der
Zeit konnte auch der „weiße Revolutionär“ nicht aufhalten,
bestenfalls kanalisieren und verlangsamen. Bismarck er-
scheint damit nur als ein retardierendes Moment in der Ge-
schichte. Seine Antworten auf die Herausforderungen wa-
ren situations- und zeitspezifisch. Sie können nicht als Blau-
pause dem übergestülpt werden, was nach ihm kam.
Ganz deutlich wird dies, wenn man sich drittens
die Denkungswelt seiner Epigonen vergegenwärtigt und in
Beziehung setzt zum Erfahrungshorizont Bismarcks. Mit
seinem Abgang wurde die Maxime des alten Kanzlers, sich
mit dem zu bescheiden, was man erreicht hatte und die
Zweifrontenkriegssituation partout zu vermeiden, sofort zu
Grabe getragen. Zum Entsetzen der Russen wurde die un-
terschriftsreife Verlängerung des „Rückversicherungsver-
trages“ im Frühjahr 1890 ausgeschlagen. Es war ein unge-
heurer diplomatischer Affront, der alsbald das wahr werden
ließ, was Bismarck, trotz aller Künstlichkeit der Architek-
tonik seines Bündnissystems, immer zu vermeiden gewusst
hatte: die gleichzeitige Bedrohung an beiden Flanken. Sie
sollte die deutsche Politik in den kommenden Jahrzehnten
vor ein unlösbares Problem stellen und schließlich im alter-
nativlosen, hochriskanten Schlieffenplan und im Versuch
enden, den gordischen Knoten mit Gewalt zu zerhauen.
Zu erklären sind diese diplomatische Torheit und
die zentrale Weichenstellung von 1890 denn auch nur damit,
dass Bismarcks Parolen von der Selbstbeschränkung als
Großmacht in der Mitte des Kontinents, dass seine bestän-
digenMahnungen vomVerzicht auf politische Muskelspiele
in Deutschland allenthalben unpopulär waren. Diese Stim-
mung von Hybris und Unverwundbarkeit resultierte als-
bald in Schlachtflottenbau, in „Weltpolitik“ und im Ruf
nach dem „Platz an der Sonne“. Mit dieser auftrumpfenden
Offensive, die die prekäre Situation in der Mitte des Konti-
nents nicht zur Kenntnis nehmen wollte, hatte Bismarck
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nichts zu tun. Seine Welt, das war und blieb der „Alpdruck
der Koalitionen“. Ihren Protagonisten hat sie nicht über-
dauert.
Und dann, Bismarcks Ziele undMethoden: die Ver-
satzstücke aus dem Arsenal des Bonapartismus, die „Flucht
nach außen“, um innenpolitische Probleme zu umgehen,
und die zähe Verteidigung des erreichten Status quo von
1871. Das waren Instrumente seiner Politik, um den Radi-
kalismus, wie immer man ihn definierte, abzuwehren und
die eigene Position, das eigene Programm, zu sichern. Bis
heute ist das so geblieben. Mit diesen Werkzeugen operier-
ten auch seine Zeitgenossen: Napoleon III., Cavour, An-
drássy, selbst Disraeli, der Führer der britischen Konserva-
tiven. Sie alle versuchten, in einer Zeit des Wandels und der
Instabilität die Massen in den Dienst konservativer Politik
zu nehmen, um dem monarchischen Regiment neue Legiti-
mationsquellen zu erschließen. Auch das „Sozialistenge-
setz“ und der „Kulturkampf“, so tief die Wunden auch
reichten, die der deutschen Gesellschaft geschlagen wurden,
brachten kein dauerhaftes Unheil. Denn gerade das Zen-
trum und die SPD, die „Reichsfeinde“ von einst, wurden,
trotz Bismarcks Verfolgung und Diskriminierung, zu den
Stützen von Staat und Gesellschaft nach der Jahrhundert-
wende.
Auch der Vorwurf, Bismarck habe die deutschen
Parteien der demokratischen Praxis entwöhnt, trägt bei ge-
nauerem Hinsehen nicht weit. Gerade am Verhalten von
Zentrum und SPD lässt sich nachweisen, dass dem nicht so
war. Als Bismarcks Schlagschatten längst verblasst war,
wurden sie ihrer staatspolitischen Verantwortung nicht ge-
recht. Das Zentrumblieb in der Weimarer Republik bis 1930
ständig in der Regierung, aber es war, indem es sich mit al-
lem und jedem arrangierte, ein politisches Chamäleon, dem
Opportunismus über alles ging und das selbst vor einemAr-
rangement
mit
den
Nationalsozialisten
nicht
zurück-
schreckte. Die SPD, die tragende und bis 1932 stärkste Par-
tei der Republik, war nur in acht von 16 parlamentarisch ge-
bildeten Kabinetten überhaupt vertreten, und fünf der acht
stürzten, weil die SPD ohne Blick für das Ganze ihre Minis-
ter aus der Regierung abzog. Bis in den Juli 1932 hinein be-
saßen die republiktreuen Parteien Weimars bekanntlich die
Mehrheit im Reichstag. Aber sie wandelten sie nicht in po-
litische Macht und systemerhaltenden Konsens um, um
dem Radikalismus von rechts und links zu trotzen.
Und schließlich: Ebenso wenig stichhaltig erscheint die
These, dass es Bismarck war, der den Deutschen das demo-
kratische Rückgrat brach. Die Weimarer Republik erfreute
sich in ihrem Anfangsjahr, trotz Niederlage im Krieg, trotz
Hungerwinter, trotz Revolution und anarchischem Auf-
ruhr, eines überwältigenden demokratischen Startkonsen-
sus. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar
1919, mit einer Beteiligung von 83 Prozent der Stimmbe-
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