Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 24

Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)
Etwa 10.000 Gefangene, davon mehr als 1.600 Frauen,
durchliefen die MfS-Untersuchungshaftanstalt Halle bis
Herbst 1989. Nach Berlin-Hohenschönhausen ist die Ein-
richtung damit die zweitgrößte derartige Einrichtung in der
DDR gewesen. Ein Grund dafür, dass sich die Stasi im Be-
zirk Halle offenbar schneller und rigider für die Inhaftie-
rung entschied, als das in anderen Bezirken der Fall war,
scheint in der „Verantwortung“ des Dienstes auch für die
Überwachung der chemischen Großbetriebe Leuna und
Buna sowie des Agfa-Nachfolgers ORWO Wolfen zu lie-
gen. Diese für die DDR-Wirtschaft lebenswichtigen Ein-
richtungen galt es mit allen Mitteln vor Störungen und Stö-
rern jeglicher Art zu schützen. Zu letzteren gehörten Men-
schen,
die
sich
über
die
stetig
schlechter
werdenden
Arbeitsbedingungen beschwerten, Informationen darüber
nach außen zu bringen drohten oder sich einfach die immer
katastrophaleren Umweltschäden nicht mehr gefallen las-
sen wollten, die aus der rücksichtslosen Auslastung der ver-
alteten und auf Verschleiss fahrenden Anlagen resultierten.
Die Auswertung vorhandener Unterlagen lässt Rückschlüs-
se darauf zu, wie und in welchemUmfang sich die „feindlich
negative Objekte“ des Staates im Laufe der Jahre änderten.
Waren es Anfang der 1950er Jahre zunächst Menschen, die
aus bürgerlichen, christlichen oder sozialdemokratischen
Positionen heraus mehr oder weniger offen gegen die SED-
Herrschaft opponierten, wechselte das Feindbild spätestens
in der Ära Honecker ab 1971 mehrheitlich zuMenschen, die
eine Ausreise aus der seit 1961 eingemauerten DDR an-
strebten oder sich – erfolglos – durch Flucht aus dem„ersten
Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ hatten
verabschieden wollen. In den letzten Jahren des Bestehens
dieses Staates traten daneben wieder mutige Bürger, die ihre
Sympathien für den Prager Frühling verbal und mit sicht-
baren Gesten zum Ausdruck brachten, die Friedens- und
Umweltgruppen gründeten und mit kleinen, aber wir-
kungsvollen Aktionen zeigten, dass es eine sinnvolle Frei-
zeitgestaltung jenseits der SED-gelenkten „Freien Deut-
schen Jugend“ und „Gesellschaft für Sport und Technik“
gab. Die Opfer des MfS-Zugriffs erlebten eine politische
Polizei, die ein anderes Gesicht des Sozialismus verkörper-
ten, als jenes, das der die Begriffe „demokratisch“ und „Re-
publik“ in seinem Namen führende Staat zu verkörpern
vorgab. Die Folgen strikter Einzelhaft mit Schlafentzug
durch nächtelange Verhöre verbanden die Vernehmer mit
gezielter psychischer Verunsicherung, indem man sich wei-
gerte, dem Verhafteten mitzuteilen, wo er sich eigentlich
befand. Den Inhaftierten war die Möglichkeit genommen,
sich selbst zu orientieren: In den „Roten Ochsen“ waren sie
mittels Gefangenentransporter überführt worden, aus dem
ein Herausschauen nicht möglich war; die Fahrt selbst
innerhalb der Stadt konnte Stunden dauern. Die Zellenfens-
ter im Haftgebäude waren mit Glasbausteinen vermauert,
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eine Orientierung also auch hier nicht möglich. Ob die
Familie von der Verhaftung wusste, welche Details die Ver-
nehmer kannten, wer mitverhaftet war, was aus den zurück-
gebliebenen Kindern wurde – dies waren Informationen,
die von der Stasi als Teil der psychologischen Kriegsführung
gegen Gefangene in unterschiedlicher Form genutzt wur-
den, die man erteilen, verfälschen oder verweigern konnte.
Nach der Verlegung in Hafträume mit zwei oder drei Mit-
gefangenen musste man damit rechnen, dass der oder die
Mitgefangene das im vermeintlich vertraulichen Gespräch
zwischen „Schicksalsgenossen“ ausgetauschte dann aber
als „Zellinformatoren“ an die Stasi-Vernehmer weiter-
gaben.
Die durchschnittliche Untersuchungshaftdauer im
„Roten Ochsen“ lag bei sechs Monaten. Dann folgte der
Prozess vor einer Strafkammer des Kreis- oder des Bezirks-
gerichts, in wenigen Fällen auch des Obersten Gerichts der
DDR. Die dabei verkündete Haftstrafe verbüßten die Ge-
fangenen anschließend in den offiziell vomMinisterium des
Innern (MdI) der DDR betriebenen Strafvollzugseinrich-
tungen und Haftarbeitslagern. Seit Mitte der 1960er, ver-
stärkt aber seit Anfang der 1970er Jahre, entwickelte sich ein
Häftlingsfreikauf, der offiziell durch kirchliche Einrichtun-
gen der Bundesrepublik vorangetrieben wurde. Die genaue
Zahl der ehemals in hallescher MfS-Untersuchungshaft be-
findlichen Männer, Frauen und Jugendlichen, die im gesam-
ten Zeitraum bis Ende 1989, als die letzten freigekauften,
politischen Gefangenen die DDR-Anstalten Richtung Not-
aufnahmelager Gießen verlassen konnten, ebenfalls in die
Bundesrepublik gelangten, ist bisher nicht ermittelt wor-
den. Es dürften allerdings einige Tausend gewesen sein.
Vernehmer aus dem „Roten Ochsen“ sind ebenso
wie Mitarbeiter anderer MfS-Abteilungen in die Maßnah-
men der SED-Führung gegen Organisatoren und Teilneh-
mer an den Demonstrationen in Halle im Herbst 1989 ein-
bezogen gewesen. Ob es aber eine größere Zahl von Zufüh-
rungen in die Untersuchungshaft „Am Kirchtor“ gegeben
hat, darf bezweifelt werden. Am 5. Dezember 1989 schließ-
lich suchten Vertreter des in der Stadt Halle entstandenen
Bürgerkomitees zunächst die Stasi-Zentrale am Gimritzer
Damm auf, um wenig später auch die Leiter der Stasi-Ab-
teilungen im „Roten Ochsen“ in Kenntnis zu setzen, dass
diese ihre gegen die Menschen des eigenen Staates gerichtete
Tätigkeit einzustellen hätten. Allerdings sollte es noch meh-
rere Wochen dauern, bis die politische Situation für die
praktische Umsetzung dieses Wunsches auch den nötigen
Nachdruck entwickelt hatte. Bis dahin standen Aktenver-
nichtung und das Unbrauchbarmachen von technischen
Anlagen und Geräten imMittelpunkt der Eigenabwicklung
der Stasi-Abteilungen im „Roten Ochsen“. Erst im Früh-
jahr 1990 verließen die letzten Mitarbeiter die ehemalige
Untersuchungshaftanstalt der MfS-Bezirksverwaltung
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