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„Ist dies mein eignes Land?“
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Sogenannte „Egodokumente“ wie Briefe, Tagebücher, Fo-
tografien und andere persönliche Habseligkeiten sind nicht
nur „en vogue“, seitdem es Soziale Medien jedem leicht ma-
chen, seinen Blick auf die Welt der restlichenMenschheit via
Internet mitzuteilen. Seit jeher spielen diese in der Betrach-
tung und Rezeption von Geschichte als Quellen eine wich-
tige Rolle, weil sie zeitgenössische Blickweisen unmittelbar
wiedergeben und so zu einem „lebensnahen“ und differen-
zierten Bild der Vergangenheit beitragen.
So plastisch und interessant solche zeitgenössischen Quel-
len sein mögen – es ist notwendig, ihnen eine kritische Lek-
türe angedeihen zu lassen: Die ihnen eigene Sicht auf poli-
tische Ereignisse ist naturgemäß von subjektiven Stand-
punkten geprägt, gibt Ausschnitte der historischen Fakten
wieder und ist häufig nur schwer überprüfbar.
1986 hat Ortrun Scheumann sprachlich leicht überarbeitete
Auszüge aus ihrem auf Englisch geschriebenen, mehrere
Jahrzehnte umfassenden Tagebuch, die vom 15. April 1939
bis zum 8. Mai 1945 reichen, erstmals unter dem Pseudo-
nym Ortrun Schnitzler, dem Mädchennamen ihrer Mutter,
veröffentlicht. Der Titel lautete „
Beloved Enemies
“ („ge-
liebte Feinde“). Nachträgliche Einfügungen oder Umwer-
tungen wurden ihren Angaben nach nicht vorgenommen.
Im Mai 2015 soll „
Beloved Enemies
“ unter dem Titel „Ge-
liebte Feinde. Ein Mädchen erlebt das Dritte Reich in
Wu
̈
rzburg“ im Wu
̈
rzburger Schöningh-Verlag als Publika-
tion des Stadtarchivs Wu
̈
rzburg erscheinen. Herausgeber ist
Dr. Roland Flade, der auch die Übersetzung ins Deutsche
besorgte. Auf seine Bitte hin lieferte Ortrun Scheumann
weitere Tagebucheinträge nach, die die Zeit in Japan und die
Reise nach Deutschland betreffen. Im Folgenden stellt Ro-
land Flade einige Auszu
̈
ge aus dem Tagebuch vor.
Die Redaktion
Biographische Notiz
Ortrun Scheumann wurde am 20. Oktober 1924 als Toch-
ter von Josef und Louise Koerber geboren. Sie hatte zwei
Schwestern: Ingeborg (geboren 1923) und Ingrid (1935).
Von 1929 bis 1939 unterrichtete der Vater deutsche Litera-
tur und Sprache an Universitäten in den japanischen Städ-
ten Matsuyama und Okayama. 1939 kehrte die Familie zu-
rück und der Vater trat eine Stelle als Studienrat an der
Oberrealschule
in
Würzburg,
dem
heutigen
Röntgen-
Gymnasium, an. Ortrun besuchte die Mozartschule, wo sie
im Februar 1944 das Abitur ablegte. Ab Mai 1944 musste sie
zwangsweise in der Granatenproduktion beimWürzburger
Druckmaschinenhersteller Koenig & Bauer arbeiten; dort
lernt sie den italienischen Kriegsgefangenen Carlo kennen,
in den sie sich verliebt.
Als Ortruns Vater im Januar 1945 mit dem „Volkssturm“ an
die Ostfront ausrücken musste, wurde Carlo zum Beschüt-
zer der Familie. Ab März übernachteten er und die Koer-
bers sowie Rosita, eine Freundin vonOrtruns Schwester In-
geborg, in einer Hütte außerhalb Würzburgs. Im Februar
begannen die schweren Bombenangriffe auf die Stadt, de-
nen rund 5000 Menschen zum Opfer fielen. Am 16. März
1945
wurde Würzburg fast vollständig zerstört. Beim
Kampf um die ausgebrannten Ruinen starben in den ersten
Apriltagen 1945 nochmals rund 1300 Menschen, darunter
etwa 300 amerikanische Soldaten. Die am Stadtrand gelege-
ne Wohnung der Familie erlitt jedoch nur leichte Schäden.
1947 wurde die Wohnung von den Amerikanern beschlag-
nahmt; bis 1957 lebten die Koerbers in der Stadtrandge-
meinde Rimpar.
Carlo kehrte im April 1945 zu seiner Familie in Süditalien
zurück; Ortrun hat ihn nie wieder gesehen. Ortruns Vater
geriet im östlichen Teil Polens in russische Kriegsgefangen-
schaft. Es gelang ihm zu entkommen; nach mehreren Mo-
naten kam er am 5. August 1945 in Würzburg bei seiner Fa-
milie an. Ortrun unterrichtete ab Anfang 1946 ein halbes
Jahr lang imKloster Triefenstein in der Nähe von Wertheim
am Main an einer amerikanischen High School Deutsch für
GIs, die dort ihren Abschluss nachholen wollten. Danach
begann sie ein Musikstudium in Regensburg. Um dieses zu
finanzieren, gab sie Deutschunterricht an der dortigen ame-
rikanischen Grundschule. In einem Regensburger Lazarett
lernte sie ihren späteren Mann Günther Scheumann, einen
Musiker, kennen, der in Russland verwundet worden war.
Günther Scheumann starb 1999.
Der Vater hatte nach dem Krieg eine Stelle an der Würz-
burger Lehrerbildungsanstalt gefunden. 1949 gründete er
die englischsprachige Zeitschrift für Oberschüler „The Bea-
con“. Ortrun gab Anfang 1950 ihr Musikstudium in Re-
gensburg auf, um sich mit dem Vater dem Projekt zu wid-
men. 1957, nach der Pensionierung des Vaters, zog die Fa-
milie nach Bad Dürkheim. Seit seinem Tod im Jahr 1972
führt Ortrun Scheumann die Zeitschrift bis zum heutigen
Tag fort. Die Mutter Louise Koerber starb 1984, die
Schwester Ingeborg bereits 1978. Die Schwester Ingrid lebt
heute im US-Bundesstaat New York.
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