Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 22

Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)
Sowjetische Besatzungsmacht
Die amerikanische Besatzungsphase in Halle währte nur bis
zum 30. Juni 1945. Einen Tag später gehörte die Stadt, wie
unter den Alliierten vereinbart, zur Sowjetischen Besat-
zungszone (SBZ). Das Zuchthaus übernahmen die als Be-
standteil der neuen Besatzungsmacht fungierenden Vertre-
ter des sowjetischen Innenministeriums (NKWD). Binnen
weniger Tage mussten auf deren Befehl die verbliebenen
Gefangenen verlegt werden. In den ersten Monaten nach
dem Besatzungswechsel nutzte die Sowjetische Militärad-
ministration (SMA) die Haftanstalt vorwiegend als Repatri-
ierungslager. Hier wurden aus dem Gebiet der Sowjetunion
stammende ehemalige Gefangene und Zwangsarbeiter ge-
sammelt, für eine Rückkehr in die Heimat vorbereitet und
schließlich dorthin gebracht. Auf die meisten wartete je-
doch nicht das Wiedersehen mit ihren Familien, sondern die
Verbringung in das stalinistische Straflagersystem (Gulag).
Grund dafür war allein der Sachverhalt, die NS-Zeit über-
lebt zu haben. Dies genügte, um dem Verdacht ausgesetzt
zu sein, mit den Nazis kollaboriert zu haben.
Der größte Teil des ehemaligen Zuchthauses füllte
sich jedoch mit deutschen Staatsbürgern, die auf Grund un-
terschiedlicher Verdachtsmomente verhaftet worden wa-
ren. Vielen Inhaftierungen gingen Denunziationen voraus.
Nur ein äußerst geringer Teil der Verhafteten hatte sich der
Beteiligung an NS-Verbrechen schuldig gemacht. Viele wa-
ren Mitläufer des Systems oder untere Entscheidungsträger
gewesen. Darüber hinaus genügte es, während der NS-Zeit
eine Uniform getragen zu haben, um in Haft zu gelangen,
wie Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes oder der Deut-
schen Reichsbahn gewesen zu sein. Zahlreichen sehr jungen
Verhafteten wurde vorgeworfen, als Teil sogenannter „Wer-
wolf“-Gruppen an Sabotageakten gegen die sowjetische Be-
satzungsmacht teilgenommen zu haben. Die meisten der bis
Mitte 1950 Inhaftierten – so lange befand sich die Haftan-
stalt unter ausschließlich sowjetischemKommando – hatten
sich jedoch in irgendeiner Form den Maßnahmen der Besat-
zungsmacht bzw. der von ihr installierten ostdeutschen
Machthaber widersetzt oder standen unter entsprechendem
Verdacht. Die im Laufe der Jahre mehrere Tausend Verhaf-
teten lassen sich in zwei Kategorien einordnen: Internierte
und von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) Verurteilte.
Die ohne Urteil festgehaltenen Internierten gelangten nach
relativ kurzfristigem Aufenthalt im „Roten Ochsen“ in die
Speziallager Torgau, Mühlberg, Buchenwald oder Sachsen-
hausen oder direkt in den Gulag („Pelzmützentransporte“).
Nach Verurteilung durch ein SMT gab es verschiedene
Möglichkeiten: bei Todesstrafe Vollstreckung durch Er-
schießen – wobei russische Archive bis heute die Herausga-
be von Angaben über den genauen Tötungs- und die Bestat-
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Strafanstalt Halle, Blick in Süd-Nord-Richtung in den Anstalts-
hof, Abbildung von 1886. Zu erkennen sind ein Beamtenwohn-
haus mit Anbau und Niederlagsgebäude (ganz links). An diese
schloss sich – vor der Fassade des nächsten Beamtenwohnhauses
zu erkennen – ein achteckiges Beamtenbade- und Waschhaus an.
Zwischen dem Hafthaus C, dessen Südfassade zu sehen ist und
dem Hafthaus B – D liegt ein gärtnerisch gestalteter Gemüsegar-
ten, der auch als Freiganghof genutzt wurde. Hauptgebäude und
Flügel B–D sind, wie die anderen Hafthäuser auch, im oberen
Stockwerk durch eine Brücke miteinander verbunden. Sie diente
als Übergang zur Anstaltskirche, die sich im Dachgeschoss des
Haupthauses befand.
Abbildung: Stadtarchiv Halle
hängt zu werden. Allein das RKG ließ im Zuchthaus Halle
211 Urteile vollstrecken, darüber hinaus im Sommer 1944
insgesamt 23 belgische „Nacht- und Nebel“-Gefangene im
Zuchthaus verwahren, um sie anschließend in einem Wald-
stück unweit der Haftanstalt durch Angehörige des Wehr-
machtstandortkommandos Halle erschießen zu lassen. Zu-
dem
veranlassten
Wehrmachtgerichte
aus
Magdeburg,
Leipzig, Erfurt und in der Kriegsendphase aus Metz Exeku-
tionen in Halle. Viele der im Zuchthaus vollstreckten To-
desurteile gingen auf in Mitteldeutschland tätige Sonderge-
richte zurück, in Einzelfällen auf Urteile von Sondergerich-
ten in Essen, Hamburg und Berlin, darüber hinaus auf
politisch motivierte Strafverfahren verschiedener Oberlan-
desgerichte. Die Leichname der Gefangenen wurden – so-
fern die Ortspolizeibehörde sie nicht im Krematorium des
Gertraudenfriedhofes Halle einäschern und dort beisetzen
ließ – verschiedenen Lehr- und Forschungseinrichtungen
der Universitäten Halle, Jena und Leipzig zur Verfügung
gestellt. Im November 1946 begann die Überführung der
sterblichen Überreste zahlreicher Opfer des Nationalsozia-
lismus – darunter auch Hingerichteter – in ihre Heimatlän-
der. Die meisten blieben jedoch auf dem Gertraudenfried-
hof zurück und sind in drei besonderen Grabfeldern bestat-
tet.
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