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Otto von Bismarck – Erblast und Erbe
Vermächtnis, Erbe und Aktualität
1979 wurde das 1931 an der Brücke zur Münchner Museumsinsel
erbaute Bismarck-Denkmal mit Farbbeuteln beworfen und
musste aufwändig gereinigt werden.
Quelle. Süddeutsche Zeitung Photo/ Fotograf: Fritz Neuwirth
rechtigten, votierten mehr als drei Viertel der Deutschen für
die republiktreuen Parteien: für die „Weimarer Koalition“
aus SPD, Zentrum und der linksliberalen Deutschen Demo-
kratischen Partei. Wenn dies schon im Juni 1920 bei der ers-
ten Reichstagswahl ganz anders war und wenn die Befür-
worter der Republik fortan bei allen Wahlen in der Minder-
heit blieben, dann hatte Bismarck daran keinen Anteil. Es
sei denn, man macht ihn für die zwielichtige Haltung der
SPD bei der Beilegung des Kapp-Putsches und die nachfol-
gende Lawine einer Gegenrevolution von Links verant-
wortlich, für die Härte des Versailler Vertrags und dessen
Kriegsschuldthese, für Hyperinflation, Ruhrkampf, Repa-
rationen und Separatismus.
Den Studenten, die Bismarck 1895 zum 80. Ge-
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Otto Fürst von Bismarck: Die gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe), Bd. 13, Reden 1885–1897, Berlin 1930, S. 558.
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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1982, S. 32 f.
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burtstag huldigten, gab er seine in Jahrzehnten gereifte
Weisheit mit auf den Weg. Man müsse „die Situation akzep-
tieren, so wie Gott sie macht. Denn der Mensch kann den
Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken, er kann nur
darauf hinfahren und steuern, mit mehr oder weniger Er-
fahrung und Geschick, kann Schiffbruch erleiden und stran-
den und auch zu gutenHäfen kommen“.
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Der Weg zum gu-
ten Hafen war mit der Bismarckschen Epoche nicht ver-
mint. Wenn das Schiff der Deutschen in den Stürmen des
zwanzigsten Jahrhunderts unterging, dann war Bismarck
nicht sein Lotse gewesen.
Was bleibt als Vermächtnis Bismarcks? Welches Erbe reicht
bis in unsere Tage und welche Bedeutung hat es für die Ge-
staltung gegenwärtiger Verhältnisse?
Ein Faktor der Kontinuität betrifft unser fortge-
setztes Denken in festgezurrten nationalstaatlichen Katego-
rien. Bismarck schuf den deutschen Nationalstaat, indem er
die bis dahin politisch zerrissene Mitte des Kontinents ei-
nigte, sie zu einer mächtigen Potenz formte und deren na-
tionalstaatliche Interessen definierte und nach außen rigo-
ros, aber mit Augenmaß, verfocht. Das Grundgesetz von
1949
erhob dagegen die Idee der Föderalität zur Hand-
lungsmaxime künftiger Außenpolitik. Es grenzte sich expli-
zit vom traditionellen Nationalismus, von Großmachtden-
ken und vom imperialistischen Kernbestand der deutschen
Geschichte ab. In Artikel 24, Absatz 2, bestimmt es, daß sich
der Bund „zur Wahrung des Friedens einem System gegen-
seitiger kollektiver Sicherheit einordnen“ soll. Er wird da-
bei, so heißt es weiter, „in die Beschränkungen seiner Ho-
heitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte
Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt
herbeiführen und sichern“.
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Zum erstenMal war die deutsche Staatsräson damit
als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs nicht mehr national-
staatlich, sondern supranational definiert worden. Das Er-
gebnis war die Eingliederung Deutschlands in die westliche
Verteidigungsgemeinschaft, die NATO, und vor allem die
Zusammenbindung Deutschlands mit seinen vormaligen
Gegnern unter dem Dach der Europäischen Union, mit ei-
ner gemeinsamen Währung, kollektiven Gesetzen, Verträ-
gen und Vertretungskörperschaften.
Hat diese übernationale Klammer, hat diese Form
der überstaatlichen Integration aber den nationalstaatlichen
Egoismus der Ära Bismarck aus den Köpfen verdrängt? Ist
Thomas Manns berühmte Zielalternative, zwischen einem
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