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Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)
Ochse“ nennen sollte. Der Name geht offenbar auf die Ver-
wendung roter, gebrannter Ziegel und Porphyr, einem in
der Gegend umHalle häufig als Baumaterial genutzten, röt-
lichen Feldstein zurück, aus dem alle festen Gebäude und
die Außenmauer errichtet wurden. Zudem erfolgte der
Transport des Baumaterials und – während der ersten Jahr-
zehnte des Bestehens der Einrichtung – auch der Gefange-
nen mit Ochsenfuhrwerken. Die Anstaltsadresse „Am
Kirchtor“ geht auf ein Stadttor zurück, das Anstalts- und
gegenüberliegende Friedhofsmauer noch bis in die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts verband. Die auf dem Friedhof
befindliche St. Bartholomäus-Kirche wiederum dürfte als
Namenspate des Stadttores fungiert haben. Die Strafanstalt
funktionierte nach demPrinzip des 1823 eröffneten Auburn
State Prison (New York, USA), in dem nächtliche Einzel-
haft mit gemeinsamer Arbeit am Tage bei strengster Durch-
setzung eines absoluten Schweigegebotes kombiniert wa-
ren. Sie verfügte zunächst über drei Hafthäuser mit jeweils
112 Zellen und einer Arbeitsetage im Dachgeschoss. Diese
bestand aus einem großen Raum, der sich ohne Zwischen-
wände über die gesamte Fläche erstreckte. Die Häuser grup-
pierten sich um das sogenannte Hauptgebäude, in dem sich
Bereits zu Beginn der 1830er Jahre reifte in der preußischen
die Verwaltung der Anstalt, Räume für den Schulunterricht,
Justiz der Plan, zur Entlastung der zwischen Wittenberg
die Wohnung des Direktors und weiterer Beamter befan-
und Torgau in dem Städtchen Prettin an der Elbe gelegenen
den. In das Dachgeschoss des Hauptgebäudes war der Kir-
Strafanstalt Lichtenburg eine neue Haftanstalt zu bauen.
chenraum integriert. Ihn betraten die Gefangenen über eine
Neben der begrenzten Aufnahmekapazität und zunehmen-
Brücke, die jedes Hafthaus mit der Kirche verband. Sie
den baulichen Mängeln der Lichtenburg dürften jedoch vor
brauchten somit selbst für den Kirchenbesuch den Häuser-
allem auch in Preußen stattgefundene Diskussionen über
komplex nicht verlassen. Im Kirchsaal saßen die Gefange-
den Zweck von Strafe und damit einhergehende Diskussio-
nen in kleinen, durch Bretterwände getrennten Verschlägen,
nen über verschiedene moderne Strafvollzugssysteme den
die jeden eventuellen Kontaktversuch unmöglich machte.
Ausschlag dafür gegeben haben, entsprechende Bauten zu
Dies ist als Bestandteil des Erziehungssystems zu verstehen:
entwerfen und umzusetzen. So entstand in den Jahren 1838
durch Schweigegebot während der Arbeit, Einzelhaft bei
bis 1842 eine vor den Toren der Stadt Halle gelegene „Straf-
Nacht und Wahrnehmung ausschließlich des Seelsorgers
und Besserungsanstalt“, die der Volksmund bald „Roter
während des Gottesdienstes sollte der Gefangene perma-
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Gemeinnütziger Volks-Kalender für das Gemein-Jahr 1841. Hauptsächlich für die Bewohner des Königl. Preuß. Regierungs-Bezirks Mer-
seburg und der angrenzenden Gegenden, 15. Jahrgang, Halle an der Saale, S. 76.
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Mit diesen Worten beschrieb ein „Volks-Kalender“ die da-
mals weit verbreitete Ansicht, dass die Einrichtung von Ge-
fängnissen wohl unausweichlich sei, dies doch aber wenigs-
tens nicht in der Nähe der eigenen Stadt erfolgen solle. Mehr
als 150 Jahre später beschloss die Regierung des Landes
Sachsen-Anhalt, in einem der Häuser des nunmehr als Jus-
tizvollzugsanstalt Halle I bezeichneten Gebäudekomplexes
eine Gedenkstätte einzurichten. Grund dafür war jedoch
nicht das von einer Haftanstalt angebliche ausgehende Ge-
fahrenpotential für eine große Stadt. Zu dokumentieren war
vielmehr die politische Instrumentalisierung von Strafver-
folgung und Strafvollzug, einer Justiz also, die jegliche ihr
eigenen Grundprinzipien verlassen und Opfer in großer
Zahl produziert hatte, um in zwei aufeinander folgenden
Diktaturen zu deren Machtsicherung beizutragen. Wie
kaum eine andere Haftanstalt in Deutschland verkörpert
der „Rote Ochse“ diese Entwicklung und fordert damit ge-
radezu heraus, sich amOrt des Geschehens damit auseinan-
derzusetzen.
Zur Anstaltsgeschichte vor 1933
„Die Strafanstalt vor dem Kirchthore am Giebichensteiner Wege schreitet rasch ihrer
im Laufe des Jahres 1841 zu erwartenden Vollendung entgegen […]. Den nach dem
reizenden Giebichenstein Spazierenden wird die Freude an dem Genuss der schönen
Natur durch den steten Hinblick auf diesen Sammelplatz menschlicher Verbrechen
und Uebelthaten nicht wenig gestört werden.“
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