Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 29

Die Gedenkstätte ROTER OCHSE Halle (Saale)
mal kleine Spielräume nutzte, um ein wenig zu helfen und
tungsgründen, der speziellen Verhaftungssituation sowie
wer, wie z.B. der Leipziger Rassen- und Völkerkundepro-
alltäglichen und besonderen Ereignissen während der Un-
fessor Otto Reche in Auslebung von deutschem Opportu-
tersuchungshaft. Die Interviews sind verschiedenen The-
nismus „die günstige Gelegenheit“ nutzte, um an Hautpro-
men zugeordnet und über die gesamte Ausstellung verteilt.
ben von „Fremdrassigen“ aus der Richtstätte Halle zu kom-
Sie bilden damit auch ein verbindendes Element für den Be-
men. Nur so kann man zeigen, wer wie und warum
sucher, da einige Personen immer wieder auftauchen, um an
funktionierte und dass vieles in ähnlichen Situationen noch
Dokumenten oder Objekten festgemachte Ausstellungsin-
heute denkbar wäre. Nur in dieser Kombination kann der
halte mit eigener Aussage zu ergänzen oder zu erläutern.
Ort als Gedenkstätte funktionieren. Alles andere wäre bes-
Ein Ausstellungsraum bietet darüber hinaus Lesemappen
tenfalls ein Museum oder gar ein Gruselkabinett.
und ergänzende Lektüre, um sich den Lebenswegen, Wider-
Die Dokumentation im SMT-MfS-Bereich beginnt
stands- und Verhaftungsgründen einzelner Inhaftierter in-
mit einer in drei kleinen Räumen präsentierten Darstellung
tensiver widmen zu können. Gleichzeitig vermittelt dieser
der Situation nach Übernahme des „Roten Ochsen“ durch
Raum den Eindruck eines Ruhepols der Ausstellung – Be-
die sowjetische Besatzungsmacht im Sommer 1945. Sie be-
sucher haben die Gelegenheit, sich hinzusetzen und länger
nennt die wichtigsten Verhaftetengruppen, zeigt die Re-
zu verweilen, sich konzentrierter auf die Welt der Inhaftier-
pressionsmethoden – Internierung und Tribunale – sowie
ten einzulassen, denn in Vitrinen an einer Längswand sind
die daraus entstandenen Folgen: Haft in Speziallagern und
primitives Zelleninventar, Geschirr, selbstgebastelte Spiel-
Gulag. Dem folgt eine chronologische Darstellung der Sta-
karten und anderes mehr zu finden.
sitätigkeit von 1950 bis 1989, die Zäsuren erkennen lässt und
Ein vorletzter Bereich dieser ehemaligen Verneh-
historische Schwerpunkte heraushebt. Eines dieser Ereig-
meretage zeigt ein Organigramm der MfS-Bezirksverwal-
nisse ist der Volksaufstand vom 17. Juni 1953, der in Halle
tung Halle nach dessen letztem Stand von 1989, stellt die Be-
auchmit der (versuchten) Erstürmung beider im Stadtgebiet
reiche sowie die Zahl der Mitarbeiter vor und nennt alle ver-
vorhandener Haftanstalten verbunden war. Bei dem Ver-
antwortlichen Leiter mit Namen und Dienstgrad. Eine kurz
such, Inhaftierte aus dem „Roten Ochsen“ zu befreien, ka-
nach Ausstellungseröffnung hinzugefügte Kartei von Lei-
men mehrere Menschen ums Leben. Die SED-Propaganda
tern und Vernehmern, die in den originalen MfS-„Kaderun-
lancierte wenige Tage später Informationen über ein Ge-
terlagen“ vorhandene Fotos und biografische Eckdaten ent-
richtsverfahren, im Rahmen dessen eine befreite Gefangene
hält, führte zu einer juristischen Auseinandersetzung, die
zur angeblichen Rädelsführerin des Aufstandes hochstili-
2008 durch den letzten Leiter der Abteilung IX, Oberstleut-
siert und ihr eine Vergangenheit als Hundeführerin in einem
nant des MfS Jürgen Stenker, ausgelöst wurde. Die Art der
Nazi-KZ untergeschoben wurde, um den Volksaufstand als
Dokumentation in der Ausstellung ist jedoch durch die
„faschistischen Putsch“ zu diskreditieren. Das Verfahren
BStU-Gesetzgebung sanktioniert, eine konkrete Benen-
gegen die als „Erna Dorn“ bekannte Beschuldigte endete
nung dieser Täterebene absolut zulässig.
mit einem Todesurteil, das wenige Monate später in der
Ein letzter Ausstellungsbereich zeigt die Situation
Haftanstalt Dresden vollstreckt worden sein soll.
im Herbst 1989 in Halle, die Reaktionen der „Staatsmacht“
Der MfS-Bereich beinhaltet auch die Dokumenta-
auf die nach ihrer Sicht außer Kontrolle geratene Situation
tion von Dunkel- und Isolationshaft, Gründe für die Unter-
eine Waffenkammer. Dieser Raum – im Originalzustand
bringung in „Begünstigten-Zellen“, Arbeitsbereiche von
des Gebäudes an dieser Stelle vorgefunden – soll zumNach-
Gefangenen sowie deren medizinische Versorgung. Breiten
denken darüber anregen, wie es hätte ausgehen können,
Raum nimmt die Rekonstruktion von Verhörsituationen
wenn eine der zentralen Forderungen der Friedlichen Re-
ein, bei der originale Tonbandmitschnitte von Vernehmun-
volution – „Keine Gewalt“ – letztendlich nicht von Erfolg
gen eingesetzt werden, die in großer Zahl in der Außenstelle
gekrönt gewesen wäre.
Halle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats-
sicherheitsdienstes
der
ehemaligen
DDR
(BStU)
vorhanden sind. Die in dieser Behörde verwahrten Unter-
lagen – Fotos ebenso wie Akten zu einzelnen Inhaftierten
Im pädagogischen Bereich ebenso wie in der Auswahl und
und ganzen „Operativen Vorgängen“ – bilden die wichtigs-
Präsentation von Sonderausstellungen ist die Gedenkstätte
te Materialbasis des gesamten Ausstellungsbereiches. Er-
bemüht, jeweils nur einen der genannten drei Schwerpunkte
gänzt werden alle Abteilungen, die sich mit den Schicksalen
(NS-Diktatur, Sowjetische Besatzungsmacht, MfS-Unter-
von Inhaftierten befassen, durch Zeitzeugendokumentatio-
suchungshaft/DDR-Justiz) ausführlich zu behandeln, die
nen, die imVorfeld der Ausstellung entstanden. Eine Grup-
anderen lediglich ergänzend und hinweisend zu erwähnen.
pe ehemaliger Inhaftierter aus verschiedenen historischen
Lediglich bei Projekten, die systemvergleichend angelegt
Zeitabschnitten nach 1945 beantwortete Fragen zu Verhaf-
sind, ist die gesamte Spannbreite einbezogen. Die Gedenk-
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Pädagogische Projekte
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