Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 36

Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
Mitglied sein. Es gibt eine ähnliche Organisation für Jungen,
die Hitlerjugend heißt. Gestern ging Mutti mit uns in ein
Warenhaus und wir kauften unsere Uniformen. Sie bestehen
aus einem dunkelblauen Rock, einer weißen Bluse, einer
schwarzen Krawatte und einer khakifarbenen Jacke.
Dann mussten wir all die Abzeichen und Haken-
kreuze kaufen, die man auf Jacke und Bluse nähen oder ste-
cken muss. Wir wussten so wenig darüber, dass die Verkäu-
ferin uns rundheraus frage, ob wir alle aus dem Ausland
kämen. Niemand, der auch nur kurz in Deutschland gelebt
hat, könnte so unwissend sein.
Heute war ich beim ersten BDM-Treffen. Als alle
Mädchen vor einem alten Haus versammelt waren, gingen
wir in einen großen Raum im Keller. Wände, Decken und
Boden waren kahl. Wir saßen auf Bänken um einen langen
Tisch. Als die BDM-Führerin, ein Mädchen von etwa 20
Jahren, kam, standen wir auf, erhoben den Arm und riefen
‚Heil Hitler!‘ Etwa zwei Stunden lang sprach sie über Hit-
ler und las patriotische Gedichte vor. Die Mädchen blieben
nicht still. Einige flüsterten und kicherten die ganze Zeit,
obwohl sie immer wieder verwarnt wurden. Das Ganze war
wirklich nicht besonders angenehm. Ich hoffe, dass wir
noch andere Dinge tun als nur Vorträge anzuhören.“
Gonsenheim, Montag, 14. August 1939.
„Ich musste heute an Japan denken. Wie gerne wäre ich wie-
der dort! Deutschland wirkt manchmal fast wie ein Ge-
fängnis auf mich. Wie schön und frei das Leben in Japan war.
Alles steht mir so deutlich vor Augen: der Strand, die Son-
ne, das tiefe Blau des Wassers und des Himmels. Jeden
Abend schwammen Ingeborg und ich zu einigen Felsen hi-
naus und beobachteten, wie die Fischerboote heimkamen.
Wie glücklich wir dort waren! Hier ist alles grau: der Him-
mel, die Häuser, sogar die Menschen.“
Gonsenheim, Dienstag, 22. August 1939.
„Schlechte Nachrichten. Gerade als Ingeborg und ich heu-
te Morgen aufstanden, kam Mutti und erzählte uns, dass
Deutschland einen Nichtangriffspakt mit Russland abge-
schlossen hat.
2
Jetzt bin ich sicher, dass es Krieg gibt. Polen
wird vonOsten undWesten angegriffen. Welche Chance hat
Polen? Nicht die geringste!“
Gonsenheim, Samstag, 26. August 1939.
„Noch kein Krieg, Gott sei Dank! Aber man sieht überall
auf den Straßen Soldaten, jeden Tag werden Truppen mobi-
2
Die Datierung des „Nichtangriffspakts“ durch Ortrun ist fragwürdig; dieser wurde offiziell am 23. September 1939 geschlossen, vgl. Die
Tödliche Utopie (wie Anm. 1), S. 562 f.
3
Langenbrombach im Odenwald liegt zu beiden Seiten des Bachs, der dem Ort den Namen gab. 1971 schloss sich Langenbrombach anläss-
lich der Gebietsreform in Hessen freiwillig mit vier Nachbargemeinden zur Gemeinde Brombachtal zusammen. Ortrun vermutet hier rich-
tig: Der Polenfeldzug wurde von Hitler mindestens seit April 1939 geplant; die angeblichen Grenzübergriffe bewaffneter Polen am 31. Au-
gust 1939 wurden vom Sicherheitsdienst der SS fingiert, um einen Anlass für den Überfall auf Polen zu inszenieren.
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lisiert. Als wir gestern Nachmittag in Mainz waren, fuhren
endlose Schlangen von Lastwagen mit Soldaten vorbei. Al-
le hatten ernste Gesichter. Vati sagt, dass es 1914 ganz an-
ders war: Die Menschen schienen damals begeistert u
̈
ber die
Aussicht eines Krieges.“
Zell, Freitag, 1. September 1939.
„Es ist Krieg! Gerade haben wir Hitlers Rede gehört. Alle
Hotelgäste hatten sich im Aufenthaltsraum um das Radio
versammelt. Die Frauen weinten alle. Mutti glaubt, dass es
wieder einen Weltkrieg gibt, nur schlimmer und grausamer
als der erste.“
Langenbrombach, Samstag, 2. September 1939.
„Gestern sind wir in eine andere Pension gezogen. Die
Landschaft ist hier so lieblich. Einige Schritte vom Haus
entfernt gibt es Wald und Wiese, einen kleinen Bach und ei-
ne alte Wassermühle. Aber wir können an nichts anderes
denken als an den Krieg.
Wir können hier nur die deutschen Nachrichten
hören. Nicht weil das Radio nichts taugt. Aber sie haben ge-
rade im Radio gesagt, dass jeder, der ausländische Nach-
richten hört, ins Gefängnis kommt. Und wenn man ande-
ren erzählt, was man gehört hat, gilt man als Verräter und
wird vielleicht erschossen!
Gerade kamen die neuestenNachrichten. Die deut-
schen Truppen stoßen schnell vor. Warschau hat einen
fürchterlichen Luftangriff erlebt. Die Menschen hier in der
Pension sagen, dass die Polen den Krieg begonnen haben.
Sind sie verrückt? Es kann keinen Zweifel geben, wer ihn
anfing!“
3
Würzburg, Sonntag, 8. Oktober 1939.
„Wir sind wieder in Würzburg! Ich bin mit den Hausauf-
gaben fertig, etwas Algebra, Geometrie und Biologie, und
jetzt habe ich Zeit für mein Tagebuch. Endlich haben wir
eine Wohnung gefunden.
Die Schule fängt um 7.45 Uhr an und ich muss je-
den Morgen um 6.45 Uhr aufstehen. Gestern mussten wir
in der Schule ein Lied singen, in dem die Polen ‚das dreiste
Lumpenpack‘ genannt werden. Oh, wie ich mich nach Ja-
pan zurücksehne. Ich vermisse es so sehr. Wenn ich nur zu-
rückkehren könnte, oh, nur fu
̈
r einen einzigen Tag!“
Samstag, 20. Januar 1940.
„Hier ist jeder ganz sicher, dass Deutschland den Krieg ge-
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