Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 42

Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
Heinz Schnarrenberger malte
das brennende W
ü
rzburg im
Jahr 1948 aus der Erinnerung.
Quelle: Main-
P
ost W
ü
rzburg
Vati sich am nächsten Morgen um zehn Uhr in der Kaserne
zu melden habe. Ich kann unser Entsetzen angesichts dieser
Nachricht nicht beschreiben, obwohl wir damals noch
dachten, dass er nur ein oder zwei Wochen zu einer Militär-
übung weg müsse. Nach einem traurigen Abschied ging er
mit Mutti los, die ihn zur Kaserne begleitete. Doch am
Abend kam Vati zurück und erzählte, dass es nicht genug
Platz zum Übernachten für so viele Männer gab. Er trug ei-
ne grässliche SA-Uniform und sah so mitleiderregend aus.
Vati ist alles, nur kein Soldat.
Außer dem Kommandeur waren beim Abschied
keine jungen Männer da. Keiner, mit demwir sprachen, ver-
traute
darauf,
jemals
zurückzukommen.
Als
der
Zug
schließlich abfuhr, weinten alle Frauen. Es ist so schrecklich,
dass Vati, der die Nazis so hasst, nun sein Leben für sie aufs
Spiel setzen muss. Auf unserem langen Heimweg waren
Mutti und ich zu traurig zum reden.“
Mittwoch, 14. Februar 1945.
„Was fu
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ü
r eine Nacht! Um 8 Uhr war Voralarm. Wir zogen
die Mäntel an, machten die Taschen fertig, und dann kam
der richtige Alarm. Wir beschlossen, zu einem neuen Luft-
schutzkeller etwa fünf Minuten von hier zu gehen. Er ist
sehr tief, früher wurde Wein dort gelagert, man muss 50 Stu-
fen hinabsteigen. Da unten war es schrecklich feucht, Was-
ser tropfte von der Decke. Stundenlang saßen wir in der
Kälte auf einer nassen Bank. Um Mitternacht konnten wir
nach Hause gehen, kalt, müde und sehr hungrig. Hunde
dürfen in öffentliche Luftschutzkeller nicht mitgenommen
werden und so mussten wir den armen Wuffi zu Hause
lassen.
Wir aßen Bratkartoffeln und tranken Kaffee, als wir heim-
kamen. Es ist schlimm, aber wenn man die halbe Nacht auf-
bleibt, hat man viel mehr Hunger. Wir haben kaumnoch Le-
bensmittelmarken für diesen Monat. Ab nächsten Monat
müssen dieMarken fünf Wochen und nicht nur vierWochen
reichen.“
Montag, 5. März 1945.
„Wie wunderbar es ist, am Leben zu sein und hier am
Schreibtisch sitzen zu können. Wie weit weg und unwirk-
lich diese Augenblicke von Todesnähe mir jetzt erscheinen,
obwohl sie erst zwei Tage zurückliegen. Um 10.30 Uhr
heulten die Sirenen. Wir griffen nach den Mänteln und lie-
fen hinaus in die dunkle Nacht. Auf halbem Weg zu einem
Luftschutzkeller unter unserer Kirche, in den wir jetzt
manchmal gehen, hörten wir die Flugzeuge schon über uns.
Plötzlich leuchtete der Himmel in einem merkwürdigen
gelben Licht. Die ersten Bomben explodierten, während wir
die Stufen zumKeller hinuntereilten, der schon voller Men-
schen war. Die ganze Zeit fielen weitere Bomben und die
Explosionen kamen näher. Ich hatte das Gefühl, als ob mei-
ne Lungen platzen. Zitternd hielten wir einander fest.“
Mittwoch, 7. März 1945.
„Wir haben kein Brot mehr, alle Bäckereien sind leer. Wir
haben praktisch nichts mehr zu essen. Heute Morgen wa-
ren wir ohne Frühstück drei Stunden im Luftschutzkeller.
Als wir heimkamen, machten wir Feuer, um Kartoffeln zu
kochen. In diesem Monat sind die Lebensmittelrationen
noch einmal verringert worden. Jeder isst Kartoffeln, Kar-
toffeln, nichts als Kartoffeln.
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