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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
Vor vier Jahren floh der tunesische Diktator Ben Ali vor den revolutionären Unruhen
nach Saudi-Arabien. Seither haben gravierende politische und gesellschaftliche Verän-
derungen das nordafrikanische Land zum einzig verbliebenen Hoffnungsträger des
einst so gefeierten „Arabischen Frühlings“ gemacht. Dabei steht es vor enormen Her-
ausforderungen: Die Arbeitslosigkeit steigt, die Wirtschaft stagniert und die Jahr-
zehnte währende autokratische Herrschaft muss aufgearbeitet werden. Seit Monaten
verzweifeln zudem tausende Familien, weil ihre Söhne für den „Islamischen Staat“
kämpfen. Trotzdem regiert seit der friedlichen Machtübergabe Ende 2014 die Hoff-
nung in Tunesien. Ein Porträt des Geburtslandes der Arabischen Revolution.
„Sie machen mich wütend“
1
Vgl. Kristina Milz: Ein Stuhl bleibt leer, in: zenith – Zeitschrift für den Orient 5 (2013), S. 44–47.
2
So beispielsweise Isabelle Werenfels: Tunesiens Demokratisierung: Lernen aus den Katastrophen der Anderen, in: Stiftung Wissenschaft
und Politik, Kurz gesagt, 27.01.2014,
-
katastrophen-der-anderen.html [Stand: 09.02.2015].
3
48 Prozent der Tunesier gaben sogar an, an der Revolution aktiv beteiligt gewesen zu sein. Mansoor Moaddel: The Birthplace of the Arab
Spring: Values and Perceptions of Tunisians and A Comparative Assessment of Egyptian, Iraqi, Lebanese, Pakistani, Saudi, Tunisian, and
Turkish Publics, University of Maryland 2013, hier S. 4.
4
Befragt wurden 3.070 volljährige Tunesier/innen sowie Vergleichsgruppen in Ägypten, Irak, Libanon, Pakistan, Saudi-Arabien und der
Türkei.
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Tunis amMorgen des 2. Februar 2013: Basma Khalfaoui be-
reitet das Frühstück und packt die Schultasche für ihre
Tochter. Plötzlich fallen Schüsse. „Ich ging sofort auf den
Balkon, um zu sehen, was los ist“, erzählt sie später und
blickt auf den Boden. Sie rennt imNachthemd auf den Park-
platz vor demHaus. Ihr Mann liegt blutend auf dem Boden.
„Es war klar, dass er erschossen wurde, aber ich wollte es
nicht glauben“, sagt sie. Damals war sie noch die Frau eines
unbequemen Oppositionspolitikers mit linken Träumen.
Heute ist Basma Khalfaoui die Witwe einer Ikone. Ihr Mann
Chokri Belaïd erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus.
1
Ein befreundeter Nachbar wurde des Attentats be-
schuldigt und verhaftet, doch Belaïds Familie ist überzeugt,
dass die islamistische Partei
Ennahda
(„Wiedergeburt“), die
zum damaligen Zeitpunkt die Regierung stellte, die Verant-
wortung für das Attentat trägt: Sie habe den Boden dafür
bereitet, dass sich der Hass gegen Andersdenkende ein töd-
liches Ventil suchte. Im August 2013 machte die Regierung
denn auch die salafistische Gruppierung
Ansar al-Sharia
(„Anhänger des islamischen Rechts“), deren Anhänger lan-
ge auch den fundamentalistischen Rand der
Ennahda
stell-
ten, für den Mord verantwortlich und verbot sie als terro-
ristische Organisation. Für die Hinterbliebenen zumindest
ein erster Schritt.
Nicht Wenige sind der Meinung, der „Arabische Frühling“
habe längst Insolvenz angemeldet. Einzig Tunesien, das
Land, in dem Anfang 2011 die Proteste in der arabischen
Welt nach der öffentlichen Selbstverbrennung eines Obst-
händlers in dem Städtchen Sidi Bouzid ihren Ausgangs-
punkt nahmen, gilt in politikwissenschaftlichen Analysen
noch als Hoffnungsträger der Region.
2
Gemessen am nach-
revolutionären Chaos seiner Nachbarn – wie etwa der Li-
byer und insbesondere der Syrer – ist diese Qualifizierung
nach wie vor plausibel. Während ein arabisches Land nach
dem anderen aus unterschiedlichsten Gründen an der Re-
volution zu scheitern droht, hat Tunesien jüngst die erste
friedliche demokratische Machtübergabe geschafft. Doch
auch im kleinsten Land Nordafrikas sieht sich die post-
revolutionäre Gesellschaft gewaltigen Herausforderungen
ausgesetzt.
Vor nunmehr vier Jahren wurde Tunesiens autoritärer Herr-
scher Zine el-Abidine Ben Ali gestürzt. Die Proteste stütz-
ten sich auf breite Zustimmung im Volk.
3
In einer Umfrage
4
gab eine Mehrheit der befragten Tunesier an, dass sich das
Leben in ihrem Land im Vergleich zur Lage vor der Revo-
1...,37,38,39,40,41,42,43,44,45,46 48,49,50,51,52,53,54,55,56,57,...80
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