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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
Auftritt des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali mit seiner Frau Leila, Carthago, 25. Oktober 2009
Foto: ullstein bild/Fotograf Hassene Dridi
Die Fälle der ermordeten tunesischen Oppositionspoliti-
ker
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eröffnen einen Blick auf die strukturellen Problemfel-
der, die Tunesien nach der Diktatur beherrschen. Familie
Belaïd wurde ein halbes Jahr kein Polizeischutz gewährt,
obwohl sie diesen nach demAttentat umgehend angefordert
hatte.
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Auch die Reaktion der Justizbehörden auf denMord
war nach rechtsstaatlichen Kriterien kaum zu rechtfertigen.
Hinzu kamen öffentliche Verunglimpfungen, die Belaïd be-
reits im Wahlkampf Atheismus und Finanzierung aus dem
Ausland unterstellt hatten – pauschale Verleumdungsmus-
ter, die in der gesamten arabischen Welt immer wieder grei-
fen. Von der
Ennahda
nahestehenden Journalisten wurde
sogar das Gerücht gestreut, seine Ehefrau selbst habe ihren
Mann erschossen. Die Fronten zwischen Säkularen und Is-
lamisten sind verhärtet. Während die einen die
Ennahda
-
11 Nur wenige Monate nach der Ermordung Belaïds, am 25. Juli, wurde der Vorsitzende der kleinen linken Partei „Die Volksbewegung“,
Mohamed Brahmi, ebenfalls vor seiner Haustür erschossen. Der Trauerzug wurde zu einer Massendemonstration mit Straßenschlachten
zwischen Islamisten und Säkularen.
12 Milz (wie Anm. 1), S. 45.
13 So etwa bei den Demonstrationen für Pressefreiheit als Reaktion auf die Verhaftung eines regierungskritischen Journalisten im September
2013, als die versammelten Medienvertreter das Religionsministerium belagerten. Kristina Milz: Freiheit hinter Gittern, in: zenithonline
vom 23.09.2013,
/ [Stand: 08.02.2015].
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Anhänger oftmals pauschal als „Terroristen“ bezeichnen, ist
andersherum der Vorwurf allgegenwärtig, die Gegner der
Regierung stünden nach wie vor dem gestürzten Ben-Ali-
Regime nahe.
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Von der Unabhängigkeit zur zweiten
„Jasmin-Revolution“
Um die derzeitigen Konfliktlinien im Land nachvollziehen
zu können, ist ein Blick auf die jüngere historische Ent-
wicklung sowie die Bevölkerungsstruktur Tunesiens auf-
schlussreich. Der Staat an der Küste Nordafrikas erlangte
seine Unabhängigkeit von der französischen Kolonialherr-
schaft im Jahr 1956. Angeführt wurde die Bewegung vom
tunesischen Nationalisten Habib Bourguiba, der das Land
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