Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 43

Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
Montag, 19. März 1945.
„So viel ist geschehen, seit ich zum letzten Mal geschrieben
habe, so viel Entsetzliches, dass ich mich sogar jetzt davor
fürchte, es aufzuschreiben – so wie man Angst hat, an einen
Alptraum zu denken, selbst wenn man wach ist. Wenn ich
hier in der Sonne vor unserer kleinen Hütte sitze und den
Liedern der Lerchen lausche, könnte ich fast glauben, dass
alles tatsächlich ein Alptraum war, wenn ich nicht vom
Schreiben aufblickte und auf das schaue, was einmal Würz-
burg war: graue Ruinen, die nach drei Tagen noch schwelen.
Vergeblich suche ich die Kuppeln und Kirchtürme, die einst
den Blick auf die Stadt so schön machten. Alles, alles ist zer-
stört. Würzburg ist tot.
Es geschah vor drei Nächten, am 16.
10
Wir waren
wie gewohnt ins Bett gegangen, trotz des Alarms um 20
Uhr. Als wir Flugzeuge über uns hörten, ging Carlo hinaus
um nachzusehen. Alles war ruhig und er kam wieder herein
und setzte sich auf seine Matratze. Aber er war unruhig und
ließ die Tu
10 Der Hauptangriff auf Würzburg erfolgte am 16. März 1945 durch die Royal Air Force. Zur Zerstörung Würzburgs vgl. auch Jürgen Kniep:
Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in Bayern, Katalog zur Landesausstellung, hg. vom Haus der Bayerischen Geschichte, Regensburg
2009.
[Stand: 18.02.2015].
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Vielleicht ist der Krieg bald vorbei. Es heißt, dass die Alli-
ierten den Rhein überschritten haben. Ich möchte so gerne
Nachrichten hören! Wir haben keinen Strom und man fühlt
sich so weit weg von allen wichtigen Ereignissen, wenn man
kein Radio hat. An den Abenden sitzen wir um eine Kerze
herum und warten auf den Alarm. Wenn er bis 22 Uhr nicht
gekommen ist, gehen wir ins Bett, ohne uns auszuziehen
und versuchen zu schlafen. Was für ein seltsames Leben!
Am Ende jedes Tages frage ich mich, ob die folgende Nacht
uns allen den Tod bringt.“
Freitag, 16. März 1945.
„Es ist ein schöner Tag, das Wetter ist besser geworden und
keine Wolke steht am Himmel. Heute sind wir nicht in die
Stadt gegangen, weil wir uns ausruhen wollten. Weder Car-
lo noch ich gehen in die Fabrik; ich habe keine Ahnung, ob
irgendjemand noch dort arbeitet. Wir bereiten das Mittag-
essen auf unseremOfen imObstgarten zu und suchen dann
mehr trockenes Holz für das Feuer. Wenn wir Wasser holen
wollen, müssen wir über eine halbe Stunde gehen. Mitten im
Wald ist eine kleine Quelle und ich mag den Weg dorthin.
Weniger angenehm ist es allerdings, die schweren Eimer zu-
rückzuschleppen.
Heute haben wir den Krieg fast vergessen. Seit zwei
Tagen hat es keinen einzigen Alarm gegeben. Es ist, als ob
wir ein Picknick machen würden. Vielleicht ist der Krieg
vorbei und wir wissen es nicht.“
̈
r auf. Mit einemMal wurde unsere Hütte von ei-
nem unheimlichen gelben Licht durchflutet, das von drau-
ßen kam.
Wir wussten sofort, was los war. Wir hatten solche
Todesangst, dass wir wie gelähmt waren. Wir wollten unse-
re Mäntel und Schuhe holen, aber nichts schien an demPlatz
zu sein, wo wir es eine Stunde zuvor hingelegt hatten. In der
Stadt fielen die ersten Bomben, ein beständiges, immer lau-
ter werdendes Donnerrollen. Rosita verlor die Nerven, sie
warf sich auf den Boden und schrie vor Panik. Carlo zog sie
hoch und wir liefen aus der Hütte. Tausende von geister-
haften Lichtern erhellten den Himmel, einige hingen direkt
über uns. ‚Was sollen wir machen? Wohin sollen wir ge-
hen?‘, riefen wir. Wir hätten versuchen können, zum Bau-
ern und in seinen Keller zu gelangen oder in den Wald, aber
in unserer Panik wussten wir nicht, was wir tun sollten und
wohin wir gehen sollten. Die Angst lähmte uns, wir schie-
nen unfähig, uns zu bewegen.
Bomben fielen und explodierten jetzt ganz in unse-
rer Nähe. Mutti schrie: ‚Lauft zur Grube hinter demKirsch-
baum!‘ Wir machten uns auf, ohne zu überlegen, ob wir das
Richtige taten. Wir befolgten einfach nur den Befehl von je-
mandem, dessen Stimme Autorität ausstrahlte. Der Kirsch-
baum steht nur einige Meter von der Hütte entfernt, aber
niemals schien er mir so weit weg wie in diesen Augenbli-
cken, als es mir kaum zu gelingen schien hinzukommen.
Wir lagen im feuchten Gras. Rosita war jetzt still,
aber Ingrid weinte herzerweichend und starrte uns mit
furchterfüllten Augen an. Es war so fürchterlich, der betäu-
bende Donner der Bomben, das morbide, unnatürliche
Licht und der Tod, der so nah war. Abertausende von Bom-
ben wurden abgeworfen. Die Explosionen betäubten uns
fast und ließen uns nach Luft schnappen.
Und dann, so plötzlich wie es begonnen hatte, war
alles vorbei. Die Lichter verschwanden vom Himmel, die
Flugzeuge waren weg, wir lebten. Wir konnten aufstehen
und zu unserer Hütte zurückgehen. Würzburg verbrannte
in einemMeer von Flammen. Riesige Wolken aus Feuer und
Rauch stiegen aus der Stadt empor, sogar der Wald über uns
brannte. Ein Sturm, so stark wie ein Orkan, tobte. Die gan-
ze Nacht ließen die Detonationen der Zeitbomben unsere
kleine Hütte erzittern, und die ganze Nacht kauerten wir da,
so schreckerfüllt, dass wir nicht reden konnten.
Sobald es hell war, gingen wir in die Stadt hinunter.
Die Häuser brannten noch und eine gigantische schwarze
Wolke hing über der Stadt. Wir brauchten fast den ganzen
Morgen, um die Stadt zu durchqueren. Eine Straße nach der
anderen erwies sich als unpassierbar. Der Rauch machte uns
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