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Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
Ortrun im Jahr 1944
Quelle: Ortrun Scheumann, Bad Dürkheim
allein zu Hause. Er berichtete von der Überwachung und
bat uns, vorsichtig zu sein. Sonst war nichts aus ihm he-
rauszubekommen. Er sagte, dass allein schon der Besuch in
unserem Haus ein gewaltiges Risiko fu
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Die Landung der Allierten begann mit der Operation „Overlord“, vgl. dazu jüngst Peter Lieb: Unternehmen „Overlord“, München 2014.
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Im September 1944 wurden noch nicht mobilisierte Männer zwischen 16 und 60 Jahren in den sog. „Volkssturm“ eingezogen, vgl. Die Töd-
liche Utopie (wie Anm. 1), S. 626.
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Ortrun (ganz rechts im karierten Kleid) mit ihrer Abschluss-
klasse, Anfang 1944
Quelle: Ortrun Scheumann, Bad Dürkheim
ihr gehört. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass ich
hoffe, dass es so bleibt.“
Dienstag, 6. Juni 1944.
„Wir haben den 6. Juni, und dieses Datum werden wir wohl
nie vergessen. Die Invasion hat begonnen!
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Ich war in der
Fabrik, als ich die Nachricht von einem Mann hörte. Ob-
wohl ich sie täglich erwartet hatte, war ich so überrascht,
dass meine Beine fast versagten.
Dies ist der Beginn der letzten Schlacht. Ich kann
nur hoffen, dass alles sehr schnell zu Ende geht. Die Alli-
ierten sind mit Tausenden von Schiffen gelandet, das Un-
ternehmen ist sicher erfolgreich. Ich wünschte nur, dass das
Radio pausenlos darüber berichten würde. Als ich mit Car-
lo heute über die Invasion sprach, sagte er: ‚Aber du bist
doch eine Deutsche!‘ Natürlich bin ich das, aber kann er
nicht verstehen, dass ich auf den Sieg der Alliierten hoffen
muss, wenn ich ein besseres und freieres Deutschland her-
beisehne?“
Montag, 11. September 1944.
„Unser Haus wird von der Gestapo überwacht! Wir leben
in größter Furcht. Heute Morgen kam ein Bekannter, der
auf irgendeine Weise mit der Polizei zu tun hat. Mutti war
̈
r ihn sei.
Was hat die Gestapo über uns herausgefunden? Ist
es etwas, was wir gesagt haben? Ist es doch wegen Carlo?
Gestern war er mit zwei Freunden wieder in unseremHaus.
Sie hörten die italienischen Nachrichten der BBC. Ist es
möglich, dass jemand das herausgefunden hat? Wir haben
Angst vor einer Durchsuchung der Wohnung. Wenn sie
meine Tagebücher finden, sind wir alle verloren – die ganze
Familie und einige unserer Freunde. Vati und Mutti baten
mich, die Tagebücher zu verbrennen, aber das kann ich
nicht. Schließlich fanden wir eine andere Lösung. Ein
Freund besitzt einen großen Garten mit einem kleinen
Schuppen. Wir fragten ihn, ob wir meine Tagebücher – es
sind sechs – darin verstecken dürfen. Zuerst weigerte er sich,
doch dann stimmte er zu. Heute Nachmittag hat Mutti die
Bücher dorthin gebracht, sie legte sie in ihre Einkaufstasche
und deckte sie mit Gemüse zu. Sie sagt, dass sie vor Furcht
zitterte, bis sie sie sicher im Schuppen verborgen hatte. Jetzt
schreibe ich in ein kleines Notizbuch, das ich in der Küche
aufbewahre. Wenn die Gestapo kommt, verbrenne ich es im
Küchenherd. Wir fühlen uns nun etwas sicherer.
Aber vielleicht haben wir etwas übersehen? Einen
Papierfetzen, auf dem Vati eine Nachricht der BBC notiert
hat? Wir leben in ständiger Furcht.“
Dienstag, 30. Januar 1945.
„Vati muss mit dem Volkssturm
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an die Ostfront! Am letz-
ten Montag kam ein Hitlerjunge mit der Nachricht, dass
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