Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 38

Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
und andere Städte einnehmen. Wir sahen Dörfer, die bis auf
die Grundmauern niederbrannten. Überall lagen Tote in
den Ruinen. Ich wollte meine Augen schließen, aber ich
starrte voller Entsetzen weiter auf die Leinwand. Polen,
Dänemark, Norwegen, Belgien, Holland, Frankreich – wird
es niemals aufhören?
Manchmal frage ich mich, von welchem Land ich
möchte, dass es den Krieg gewinnt – Deutschland oder all
die anderen? Und meine Antwort ist immer dieselbe: Ich
möchte, dass England gewinnt, weil ich denke, dass die, die
so grausam angegriffen wurden, das Recht haben, wieder
frei zu sein. Aber klingt das nicht schrecklich? Ich will, dass
mein Vaterland diesen Krieg verliert.“
Samstag, 13. Juli 1940.
„Ab und zu kann man in Zeitungen lesen, dass Leute, die im
Radio Auslandssender hören, in Konzentrationslager kom-
men oder erschossen werden. Trotzdem haben wir das Ge-
fühl, dass wir dieses Risiko eingehenmüssen. Natu
̈
rlich sind
wir immer sehr vorsichtig, wenn wir die Nachrichten der
BBC hören. Wir schließen die Fenster und Türen, schieben
das Radio von der Wand weg und verringern die Lautstär-
ke. Ich weiß nicht, was wir tun würden, wenn wir nicht
BBC hören könnten. Es ist ein schreckliches Gefühl nicht
zu wissen, was in der Welt passiert, und man weiß es nie,
wenn man nur die deutschen Nachrichten hört.“
Mittwoch, 19. März 1941.
„Es ist unglaublich, wie oft man in der Schule ‚Heil Hitler‘
sagen muss. Jedes Mal, wenn ein Lehrer ins Klassenzimmer
kommt, müssen wir aufstehen, unsere Arme erheben und
‚Heil Hitler‘ rufen. Wir haben ungefähr fünf Fächer am Tag,
das heißt fünf Lehrer und zehn ‚Heil Hitler‘. Ich öffne nur
meinen Mund und sage die Worte nicht, aber auch so ist es
schon grässlich genug. Wenn wir einen Lehrer außerhalb
der Schule treffen, müssen wir ihn ebenfalls mit ‚Heil Hit-
ler!‘ begrüßen.
Ich bin sicher, dass unsere Musiklehrerin so über die Nazis
denkt wie unsere Familie. Bei einigen Leuten weiß man das
einfach, auch wenn darüber nicht geredet wird. Ich treffe sie
manchmal auf dem Schulweg und wenn niemand in der
Nähe ist, sagen wir immer ‚Guten Morgen!‘.“
Sonntag, 4. Mai 1941.
„Vor einigen Tagen hörten wir Churchill im Radio. Heute
hörten wir Hitler. Welch ein Unterschied in der Art zu spre-
chen! Hitler spricht von den Engländern als den größten
Feiglingen und Kapitalisten und Egoisten und weiß Gott
noch was, und von Churchill als einem Irren, demman nicht
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In der NS-Frauenschaft (NSF) waren in der „Volksgemeinschaft“ alle Frauenverbände organisiert, vgl.
[Stand: 18.02.2015].
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erlauben sollte, eine Nation zu führen. Auf der anderen Sei-
te spricht Churchill von Deutschland als einer mächtigen
Nation und er sagt, dies sei eine der ernstesten Epochen der
englischenGeschichte. JedesMal, wennHitler imBezug auf
England einen sehr hässlichen Begriff verwendet, spendet
der ganze Reichstag Applaus. Wie gut die Nazis ihre An-
hänger dressiert haben!
Kürzlich hörte ich jemanden sagen, dass die Deut-
schen die freieste Nation der Welt seien. Frei? Mein Gott,
wo ist diese Freiheit? Man darf nicht lesen, was man will,
man darf im Radio nicht hören, was man will, man darf sich
nie, nie über irgendetwas beschweren, man muss sagen, dass
alles hier wunderbar ist, sonst . . .
Oh, diese glorreiche Freiheit!“
Freitag, 9. Mai 1941.
„Wenn ein Fremder dieses Tagebuch lesen würde, wäre das
eine Katastrophe fu
̈
r mich und meine ganze Familie. Ich
darf es niemals herumliegen lassen. Leute sind wegen viel
kleinerer Dinge ins Konzentrationslager geschickt worden.
Den Nazis ist es egal, welche Methode sie anwenden, um
sich ihrer Feinde zu entledigen – und wir sind ihre Feinde
und stolz darauf.“
Donnerstag, 4. September 1941.
„Von einem deutschen Offizier, der eben aus Polen zurück-
gekehrt ist, haben wir gehört, dass Tausende Menschen in
Warschau verhungern. Das jüdische Viertel wurde abgerie-
gelt, niemand darf hinein oder heraus. Er erzählte uns, dass,
wenn ein Pole einen Deutschen tötet, die Deutschen sich
rächen, indem sie 10 bis 50 Polen erhängen oder erschießen.
Er sah ganze Reihen an den Dorfstraßen hängen. Wir hören
diese Schreckensnachrichten und können nichts tun. Oh
Gott, wenn ich nur irgendwie helfen könnte! Wie nutzlos
meine Tränen sind! Niemals, niemals, so lange ich lebe, wer-
de ich den Nazis ihre Taten vergeben!“
Donnerstag, 5. Februar 1942.
„Die Lebensbedingungen in Deutschland werden ziemlich
hart, wenig Lebensmittel, keine Schuhe, keine Kleider, kei-
ne Seife, nichts, nichts, wohin man schaut. Die Lebensmit-
telrationen sind beträchtlich gekürzt worden. Die ‚Frauen-
schaft‘, die Nazi-Frauenorganisation,
5
gibt Rezepte heraus
für Mahlzeiten, die aus Kartoffeln und Mehl und sonst
praktisch nichts bestehen. Von einem Nachbarn, der Arzt
ist, hörten wir, dass Krankheiten wie Rachitis und Tuber-
kulose zunehmen. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass
zur ungenügenden Ernährung noch die verlängerte Ar-
beitszeit kommt.“
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