Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 39

Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
Samstag, 10. Oktober 1942.
„Ich denke manchmal, dass das Leben nach einem Sieg der
Nazis ganz unerträglich wäre – in Deutschland genauso wie
in jedemLand, das die Deutschen besetzt haben. Schon jetzt
ist es schlimm genug. Alles wird von oben organisiert und
jede Eigensta
̈
ndigkeit wird den Deutschen ausgetrieben.
Mir erscheinen sie bereits sehr gut abgerichtet, denn sie nen-
nen dies den idealen Staat und sie sagenmit offensichtlichem
Stolz: ‚Alles, was wir haben, verdanken wir dem Führer!‘
Und ich denke: ‚Was hat er uns denn gegeben, die-
ser Nazigott?‘ Nichts als Leid. Kann man wirklich erwar-
ten, dass wir ihn lieben? Den wichtigen Leuten der Partei
geht es gut. Sie bekommen zehnmal soviel Lebensmittel wie
wir, sie fressen sich bei Festen voll und fahren in ihren
Luxusautos herum, ohne auch nur den Kopf zu wenden und
nach den armen alten Juden in Lumpen zu schauen, die die
Straße kehren, oder nach den Kriegsgefangenen in zerrisse-
nen Kleidern und ohne Schuhe. Sie verschwenden keinen
Gedanken auf diese Kriegsgefangenen und Fremdarbeiter,
die die Straßen nach Essensresten absuchen. Sie genießen
das Leben und wissen dabei ganz genau, was für unmensch-
liche Dinge in den Konzentrationslagern geschehen.
Ich kenne das Gedicht von Sir Walter Scott, das mit
diesen Zeilen beginnt:
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Russische Kriegsgefangene im Jahr 1942 in Würzburg
Foto: Stadtarchiv Würzburg
Am 25. April 1942 werden 850 jüdische Männer, Frauen und Kin-
der zum Würzburger Güterbahnhof Aumühle getrieben. Der
Weg, an dem das Bild entstand, endet an den Bahngleisen. Im
Hintergrund ist die St.-Josefs-Kirche im Stadtteil Grombühl zu
erkennen.
Foto: Ernst Gortner, Nürnberg
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