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Tagebuch eines Mädchens aus dem „Dritten Reich“
Domstraße nach dem 16. März 1945
Quelle: Geschichtswerkstatt W
ü
rzburg
Dienstag, 8. Mai 1945.
„Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus! Die ganze Welt ruft
diese Worte. Die amerikanischen Soldaten im Haus gegen-
über haben den ganzen Abend vor Freude gejubelt. Sie
schießen in die Luft, aus ihren Radios tönen Friedensglo-
cken. Wir hören sie bis zu unserem Haus herüber. In Ame-
rika, in England, in fast allen Ländern wird es heute Nacht
Freudenfeiern und Glücksgefühle geben. Auch ich bin
glücklich, sehr glücklich aber ich kann nicht lachen. Nicht
weil ich Deutsche bin und Deutschland den Krieg verloren
hat. Ich wusste, dass es so kommen würde und ich habe es
von ganzem Herzen herbeigesehnt.
Ich kann nicht lachen, weil ich diese Jahre voller
Terror, Verlust und Tod nicht vergessen kann. Ich kann
Sonntag, 15. April 1945.
nicht lachen, weil der Krieg uns so viel unwiederbringlich
„Wir leiden jetzt unter der einfachen Tatsache, dass wir
geraubt hat: die Zukunft, die wir uns vorgestellt hatten,
Deutsche sind. In all diesen Kriegsjahren waren wir in un-
Menschen, die wir liebten, unsere schöne Stadt – und noch
seren Gedanken und Hoffnungen so sehr auf der Seite der
so viel mehr. Und Vati? Wo ist er? Wann kommt er zurück?
Alliierten und verteidigten sie inGesprächenmit Deutschen
Ich bete, dass es nie wieder Krieg gibt und dass spätere Ge-
so oft, dass wir ganz vergaßen, dass wir selbst Deutsche sind
nerationen vor den Gräueln verschont bleiben, die wir er-
und dass die Alliierten, wenn sie nach Würzburg kommen,
lebt haben.
uns nicht als Freunde und Gleiche behandeln werden, son-
Friedensglocken läuten. Ich gehe ans Fenster und
dern so wie alle anderen Deutschen – als Feinde.
schaue auf die Ruinen von Würzburg. Tränen steigen mir in
Wir haben in dieser letztenWoche einige Dinge ge-
die Augen. Ich weiß nicht, ob vor Trauer oder aus Dank-
lernt. Wir wissen jetzt, dass für uns die Jahre des Kampfes
barkeit.“
nicht vorbei sind. Das Ende des Krieges, auf das wir gewar-
tet und für das wir gebetet haben, ist sehr nahe. Aber die Zei-
ten sind hart und wir wissen nicht, wie es jetzt weitergeht.“
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zwei Decken, die in der Nähe lagen, und packten so viel
Brot hinein, wie wir tragen konnten. Die Soldaten sagten,
dass sie nicht glauben konnten, dass wir das alte Brot essen
würden. Aber es ist immer noch besser als Steckrüben.
GesternNachmittag klopfte jemand an die Tür und
da stand einer der Amerikaner. Er kam, um uns zu sagen,
dass die sechs in der Nacht in Richtung Osten verlegt wür-
den. Er sagte, wie froh er gewesen sei, Englisch sprechende
Menschen so fern von zu Hause zu finden. ‚Ihr seid die ers-
ten Leute, mit denen wir hier in Deutschland reden konn-
ten und die ersten, bei denen wir das Gefühl hatten, ihnen
vertrauen zu können.‘ Er gab uns die Hand, hinterließ sei-
ne Adresse und bat uns, nach Kriegsende zu schreiben.“
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