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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
Jung, gebildet, arbeitslos
„Eigentlich ähnelte sein Leben dem Leben Hunderttausen-
der anderer junger Tunesier: kein Geld, kein vernünftiger
Job, keine Perspektive. Unterdrückt von einem autoritären
Regime, gegängelt und gedemütigt von korrupten Beamten,
frustriert von einer Gesellschaft, die jungen Menschen
kaum Chancen bot.“
41
So kann die Lebenswirklichkeit Mo-
hamad Bouazizis charakterisiert werden, des 26-jährigen
38 Martin Gehlen: Tunesiens Mittelschichtkids ziehen in den Dschihad, in: Zeit Online, 02.12.2014,
/
2014-12/tunesien-jihadisten-radikalisierte-jugend [Stand: 08.02.2015].
39 Vergleichbaren pseudoreligiösen Terror verbreitet derzeit wohl neben dem „Islamischen Staat“ nur noch die nordnigerianische Gruppie-
rung
Boko Haram
(„Westliche Bildung ist verboten“ ist eine gängige Übersetzung des Namens).
40 Zit. nach Gehlen (wie Anm. 38).
41 Yasemin Ergin: Als die Willkür unerträglich wurde, in: Daniel Gerlach u. Christian H. Meier (Hg.): Der Nahe Osten in hundert Köpfen.
Biografische Skizzen zu Zeitgeschichte und Gegenwart, Bonn 2012, S. 168–170, hier S. 169.
42 Die Rolle von Facebook und anderen sozialen Netzwerken bei den arabischen Revolutionen wurde in vielen Beiträgen übertrieben hoch
bewertet. Das Internet stellte mit seinen Möglichkeiten zur Vernetzung ohne Zweifel einen Katalysator der Proteste dar, kann aber sicher-
lich nicht als Bedingung oder gar ursächlich für diese betrachtet werden. In Ägypten beispielsweise wurde das Internet wenige Tage nach
Beginn der Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz landesweit gesperrt – ein Eigentor des Mubarak-Regimes, da diese Maßnahme die Leute
erst recht auf die Straße trieb, um Neuigkeiten zu erfahren.
43 CIA World Factbook (wie Anm. 14). Daran wird sich auch in Zukunft vermutlich nichts ändern: Die derzeitige Geburtenrate liegt bei 2,0
Kindern pro Frau (Durchschnittswert von 2010-2015): United Nations Population Fund (Hg.): The Power of 1.8 Billion. Adolescents,
Youth and the Transformation of the Future, New York 2014, S. 114.
44 Germany Trade&Invest (Hg.): Wirtschaftstrends kompakt. Tunesien, November 2014,
[Stand: 10.02.2015].
45 Im Ranking zum globalen Bildungsniveau liegt Tunesien derzeit stabil im Mittelfeld auf Rang 90 von 187 Ländern und nimmt im regionalen
Vergleich damit eine der besten Platzierungen ein. United Nations Development Programme, Human Development Reports, Education
Index (November 2013),
[Stand: 11.02.2015].
46
Schätzung 2013 nach CIA World Factbook (wie Anm. 14).
47
Fleischer (wie Anm. 16), S. 10.
48 African Development Bank (Hg.): The Revolution in Tunisia: Economic Challenges and Prospects, Edinburgh 2011, S. 2,
North%20Africa%20Quaterly%20Analytical.pdf [Stand: 11.02.2015].
49 Die Zahl bezieht sich auf Tunesier/innen zwischen 15 und 24 Jahren. Angabe 2011 nach CIA World Factbook (wie Anm. 14).
50 Germany Trade&Invest (Hg.): Wirtschaftstrends kompakt Jahreswechsel 2014/15: Tunesien, S. 7,
/
Trade/Fachdaten/PUB/2015/01/pub201501088013_wirtschaftstrends---tunesien--jahreswechsel-2014–15.pdf [Stand: 11.02.2015].
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Angesichts dieser Befunde mögen die Berichte über junge,
meist männliche Tunesier überraschen, die in den vergange-
nen Monaten in erschreckender Anzahl den Weg nach Sy-
rien oder in den Irak suchten, um den sogenannten „Islami-
schen Staat“ bei der Umsetzung seiner brutalen Herrschaft
zu unterstützen. Meist lassen sie verzweifelte und ratlose
Familienmitglieder zurück. Aus keinem Land kommen der-
zeit mehr IS-Kämpfer als aus Tunesien, mehrere tausend
sollen es sein.
38
Manmuss jedoch nicht davon ausgehen, dass
der Islamismus in seiner derzeit wohl aggressivsten Aus-
prägung
39
zwangsläufig ein Ergebnis religiöser Überzeu-
gung oder gar „Verführung“
40
darstellt, bedeutet er doch
vielmehr eine klare Abkehr vom Mehrheitsglauben der
Muslime. Zur Beantwortung der Frage, inwiefern seine An-
ziehungskraft auf Teile der tunesischen Jugend als Aus-
druck von Unzufriedenheit auf ganz anderen Gebieten ge-
deutet werden kann, scheint ein Blick auf die sozioökono-
mischen Rahmenbedingungen des Landes aufschlussreich.
tunesischen Obsthändlers, der mit seiner Selbstverbren-
nung am 17. Dezember 2010 die Protestwelle in Nahost ins
Rollen brachte. Er wurde zur Symbolfigur des Aufstandes
gegen die repressiven Regime der arabischen Despoten; sein
Bild ging über soziale Netzwerke um die Welt.
42
Bouazizi ist kein bedauerlicher Einzelfall: Die Pro-
bleme der Jugend sind die Probleme des Landes. Mit 31,4
Jahren Durchschnittsalter
43
ist Tunesien eine sehr junge Ge-
sellschaft: 39 Prozent der Bevölkerung ist jünger als 25 Jah-
re.
44
Was hat sich an den Rahmenbedingungen für die jun-
ge, gut ausgebildete Generation
45
seither verändert? Die
Situation hat sich sogar verschlechtert. Die allgemeine Ar-
beitslosigkeit in Tunesien liegt jüngsten Erhebungen zufol-
ge bei satten 17,2 Prozent,
46
vor der Revolution waren es
drei Prozentpunkte weniger.
47
Während die allgemeine Ar-
beitslosigkeit von 1994 bis 2010 auf relativ konstantem Ni-
veau blieb, ja in den Jahren vor der Revolution sogar leicht
zurückging, hat sich die Arbeitslosigkeit von Universitäts-
abgängern imgleichen Zeitraum vervierfacht.
48
Drastisch ist
die Zahl der Jugendarbeitslosigkeit – für das Revolutions-
jahr 2011 wurde sie mit 42,3 Prozent beziffert.
49
Für viele
Tunesier bedeutet dies: Nach dem Hochschulabschluss
führt der direkte Weg in die Arbeitslosigkeit, die Aussich-
ten auf eine baldige Anstellung sind gering. Derzeit ist
ein Drittel der tunesischen Hochschulabgänger ohne Ar-
beit.
50
Die Revolution, für welche die Unzufriedenheit
mit der materiellen Lage in der Bevölkerung eine entschei-
1...,45,46,47,48,49,50,51,52,53,54 56,57,58,59,60,61,62,63,64,65,...80
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