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Salafismus – eine Einordnung
„heilig“ ist in Bezug auf
Jihad
im Koran nicht auffindbar.
Allerdings ist das Konzept
Jihad
– sowohl martialisch als
auch selbstdisziplinierend – als Pflichtakt zu betrachten, um
in bestimmten Situationen der Sache Gottes zu dienen.
Die Relevanz von
Jihad
für die Etablierung einer
islamischen Ordnung ist zentral. Damit ist das Konzept für
den islamischen/islamistischen Aktivismus und das ihm ei-
gene Selbstverständnis von großer Bedeutung. Dement-
sprechend wird dieser Begriff von zahlreichen Rechtsge-
lehrten bzw. Islamisten immer wieder aufgegriffen, neu be-
wertet, gedeutet und neu konzipiert.
Auch
für
die
unterschiedlichen
salafistischen
Gruppierungen ist das
Jihad
-Konzept von zentraler Bedeu-
tung. Die Bezeichnung „jihadistisch“, die von Jihadismus
abgeleitet ist, bezieht sich auf eine bestimmte salafistische
Strömung, die den gewaltsamen Kampf als primäres Mittel
zur Durchsetzung der islamischen Ordnung betrachtet.
Dieses wird später genauer beleuchtet.
Fundamentalismus
Der Begriff Fundamentalismus wurde ursprünglich in den
1930er Jahren entworfen und bezeichnet „protestantische
Vereinigungen, die sich seit dem 19. Jahrhundert gegen li-
berale Erneuerungen innerhalb der Theologie wenden, his-
torisch-kritische Bibelinterpretationen ebenso wie Darwins
Evolutionstheorie und säkulare Gesellschaftsformen ableh-
nen“.
12
Spätestens seit der Islamischen Revolution im Iran
im Jahre 1979 wurde mit dem Begriff Fundamentalismus
bzw. islamischer Fundamentalismus der islamisch-politi-
sche Aktivismus gekennzeichnet. In den 1990er Jahren wur-
de der Begriff Islamismus – wie bereits erläutert – parallel
zum Begriff Fundamentalismus etabliert. In der akademi-
schen Forschung wurde Fundamentalismus in diesem Pro-
zess zum Teil vom Begriff Islamismus abgelöst. Im media-
len und politischenDiskurs werden beide Begriffe imGrun-
de häufig synonym verwendet.
Im vorliegenden Beitrag wird die Verwendung des
Begriffs Fundamentalismus als problematisch erachtet, weil
er ungleich weniger als der Begriff Islamismus eine analyti-
sche Handhabe darstellt, um den gegenwärtigen islamisch-
politischen Aktivismus adäquat zu erfassen, denn dieser ist
nicht unbedingt per se völlig modernitätsfeindlich. Zwar
werden die säkulare Herrschaftsform und wesentliche
Charakteristika moderner westlicher Gesellschaften abge-
12 Gisbert Gemein/Hartmut Redmer: Islamischer Fundamentalismus, Münster 2004, S. 11.
13 Ebd., S. 16 f.
14 Samer Shehata: Introduction, in: Islamist Politics in the Middle East: Movements and Change, hg. von Samer Shehate, London/New York
2012, S. 3.
15 Michael Emerson/David Hartman: The Rise of Religious Fundamentalism, in: Annual Review of Sociology 32 (2006), S. 131.
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lehnt, gleichwohl werden naturwissenschaftliche Errungen-
schaften und Erkenntnisse sowie moderne Technik sehr
wohl angenommen. Vielmehr gilt der islamisch-politische
Aktivismus nicht als Projekt gegen die Moderne, sondern
als Projekt gegen den vermeintlichen Verfall der islamischen
Welt: Es geht um die Wiederbelebung bzw. die Fortent-
wicklung der islamischen Zivilisation.
13
Überdies ist die Bezeichnung fundamentalistisch
fragwürdig, weil – ungeachtet des islamisch-politischen Ak-
tivismus – die überwiegende Mehrheit aller Muslime, gleich
welcher Konfession, den Koran als das unfehlbare Wort
Gottes betrachtet.
14
Aus dieser Perspektive wäre der „real
existierende Islam“ als Ganzes eine fundamentalistische Er-
scheinung – empirisch ist diese Auffassung sehr problema-
tisch.
Auch aus analytischer Perspektive ist der Begriff
Fundamentalismus schwierig zu handhaben. Die Bezeich-
nung „fundamentalistisch“ ist immer relational. Denn das
„Fundamentalistische“ soll mit dieser Bezeichnung vom
„Nicht-Fundamentalistischen“
abgegrenzt
werden.
Im
Prinzip geht es um die Auseinandersetzung antagonisti-
scher Denkperspektiven: Aus moderner bzw. säkularer
Sicht sind Fundamentalisten reaktionäre radikale Akteure,
die die Gesellschaft in ein Zeitalter der Unterdrückung und
Intoleranz zurückführen wollen. Dem entgegen steht um-
gekehrt die Überzeugung, dass westliche Modernisierung
bestehende soziale Gemeinschaften sowie generell Werte
und Normen überrolle und säkulare Unterdrückung, sitt-
liche Leere und sogar die Einschränkung der Freiheit be-
wirke.
15
Extremismus undTerrorismus
Im öffentlichen Diskurs um Islamismus bzw. Salafismus
spielen verschiedene Begriffe wie „Extremismus“ oder auch
„Terrorismus“ eine große Rolle, deren Definition aber um-
stritten ist. Dabei stehen sich normativ-wertende und
analytisch-kritische Positionen gegenüber. Eine vertiefte
Diskussion darüber würde den Rahmen dieses Beitrags
sprengen.
Salafismus – oder Salafismen
Salafismus ist ein komplexes Phänomen, das religiöse, poli-
tische, gesellschaftliche sowie individuelle Aspekte umfasst.
Zudem prägen Fragmentierung undMehrdeutigkeit das Er-
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