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Tunesien: Insolvenzverwalter des „Arabischen Frühlings“
51 2013 betrug der Anteil des Reise- und Tourismussektors am gesamten BIP in Tunesien 14,2 Prozent, im Jahr vor der Revolution waren es
noch 17,5 Prozent: World Travel and Tourism Council Data,
-
Contribution-to-GDP/Total-Contribution-to-GDP-percent-share [Stand: 12.02.2015]. Von 2010 auf 2011 gingen die Einnahmen in der
Branche um rund 30 Prozent zurück: Wirtschaftskammer Österreich (Hg.): Länderreport Tunesien, Wien 2014, S. 4,
/
statistik/laenderprofile/lp-tunesien.pdf [Stand: 12.02.2015].
52 Jan Claudius Völkel: BTI 2014 – Regionalbericht Naher Osten und Nordafrika, Gütersloh 2013, S. 9,
/
tx_itao_download/BTI_2014_Regionalbericht_Naher_Osten_und_Nordafrika.pdf [Stand: 11.02.2015].
53 Völkel (wie Anm. 52), S. 13.
54 Hier und im Folgenden: Völkel (wie Anm. 51), S. 19.
55 Der BTI ist eine von der Bertelsmann Stiftung vorgelegte vergleichende Studie zum Entwicklungsstand und zur Governance von politi-
schen und wirtschaftlichen Veränderungsprozessen in Entwicklungs- und Transformationsländern.
56 Völkel (wie Anm. 52), S. 9.
57 Die Familie Ben Ali wie die seiner Frau Leila Trabelsi und der weitere Familienkreis kontrollierten angeblich mehr als 40 Prozent der tune-
sischen Wirtschaft. Ausführlich hierzu: Fleischer (wie Anm. 16), S. 4.
58 African Development Bank (wie Anm. 48), S. 3.
59 Vgl. hierzu die Analyse von Anne Wolf: Power Shift in Tunisia. Electoral Success of Secular Parties Might Deepen Polarization, in: SWP
Comments 54 (2014),
[Stand: 11.02.2015].
60 Germany Trade&Invest (wie Anm. 38).
61 Die ärmeren Jugendlichen sehnen sich Gehlen zufolge eher nach Europa, vgl. Gehlen (wie Anm. 38). Entgegengesetzte Stimmen befürch-
ten, dass sich die Radikalisierung mit zunehmenden ökonomischen Problemen verstärken könnte: Wolf (wie Anm. 59).
62 Werenfels (wie Anm. 2).
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dende Rolle spielte, brachte neue Unsicherheiten mit sich,
die die Wirtschaft zusätzlich belasteten: Der so wichtige
Tourismussektor brach ein,
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die Volkswirtschaft schrumpf-
te im Jahr 2011 um 1,8 Prozent.
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Die „schmerzhaften Um-
bruchprozesse mit Machtkämpfen zwischen Islamisten, Sä-
kularen und Militärs“ mit ihrer einhergehenden Unsicher-
heit brachte die Volkswirtschaft unter Druck.
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2012 erholte
sich das BIP wieder leicht und hatte einen Zuwachs von 2,7
Prozent zu verzeichnen.
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Von 2010 auf 2012 stieg das staat-
liche Haushaltsdefizit von 1,0 Prozent des BIPs auf 6,3 Pro-
zent, die Staatsverschuldung erhöhte sich im selben Zeit-
raum von 40,5 auf 52,5 Prozent. Der tunesische Dinar muss-
te gegenüber dem Euro deutlich abgewertet werden. Die
Exportwirtschaft dagegen erzielte nicht zuletzt deshalb
auch nach der Revolution steigende Erlöse, hatte aber mit
der lahmenden Wirtschaft in Europa zu kämpfen.
Nach Einschätzung des Transformationsindexes
der Bertelsmann Stiftung (BTI)
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ist Tunesien als „Markt-
wirtschaft mit Funktionsdefiziten“ einzustufen.
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Die Sche-
re zwischen Arm und Reich ist, wie bereits erwähnt, nach
dem Empfinden der tunesischen Bevölkerung nach der Re-
volution noch weiter auseinandergegangen. Dies ist inso-
fern erstaunlich, da die grassierende Korruption und die im
Ben-Ali-Regime strukturelle Vetternwirtschaft
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sich zu-
mindest nicht verstärkt haben dürften. Die Differenz zwi-
schen dem lange vernachlässigten Binnenland und den flo-
rierenden Küstenregionen ist immens: Im Jahr 2000 lag der
landesweite Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden
Bevölkerung bei 18,4 Prozent – wobei nur 6,9 imGroßraum
Tunis, dagegen 30,8 Prozent im mittleren Westen des Lan-
des betroffen waren.
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Beobachter befürchten, dass sich die
strukturelle Ungleichverteilung mit dem jüngsten Wahlsieg
der säkularen Partei
Nidaa Tounes
, deren Wählerschaft sich
vor allem aus der privilegierten urbanen Region Tunesiens
rekrutiert, durch eine forcierte Klientelpolitik noch ver-
stärkt.
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Optimistischere Stimmen weisen darauf hin: Eine
hohe Inflation und Arbeitslosigkeit würden für stagnieren-
den privaten Konsum im Land sorgen, aber: „Nach Ab-
schluss des demokratischen Übergangs ziehen die Investi-
tionen mäßig an.“
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Selbst wenn ein Großteil der jungen Tunesierinnen
und Tunesier, die an der Seite des „Islamischen Staates“ in
den Kampf gegen „Ungläubige“ zogen, der vergleichsweise
vermögenden Mittelschicht entstammen und nicht direkt
von Armut betroffen sind,
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bleibt die Frage nach denGrün-
den für deren Radikalisierung. Schwerlich kann diese mo-
nokausal einzig den aus den Golfstaaten finanzierten und
von der
Ennahda
lange Zeit geduldeten salafistischen Ima-
men angelastet werden. Das radikale Gedankengut, das die-
se zweifelsohne vertreten, verlangt nach einem Nährboden,
auf dem es gedeihen kann. Dass ein hohes Maß an Verunsi-
cherung und Perspektivlosigkeit dabei eine Rolle spielt, ist
im Falle Tunesiens kaum von der Hand zu weisen. Die jun-
ge Generation sieht sich einem langwierigen Transformati-
onsprozess gegenüber, der naturgemäß nur schrittweise vo-
rankommt und immer wieder Rückschläge hinnehmen
muss – nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch
in Fragen der Demokratisierung.
Dennoch gilt: „In einer Region, in der politische
Konflikte in der Regel mit Gewalt oder Repression ausge-
tragen werden, demonstriert Tunesien eindrücklich, dass
der Verhandlungsweg zwar zäh sein mag, aber demokrati-
schere und voraussichtlich auch nachhaltigere Resultate zei-
tigt.“
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Die seit Januar 2014 geltende neue tunesische Ver-
fassung kann als Meilenstein in der Entwicklung des Lan-
des gesehen werden. Doch wie kam es dazu?
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