Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 69

Salafismus – eine Einordnung
Salafismus heute
Die Entwicklung des zeitgenössischen Salafismus – auch
„neo-klassischer“ Salafismus genannt – kann bis in die
1960er Jahre zurückdatiert werden. Durch die Politik der
„islamischen Solidarität“, die der damalige saudische König
Faisal als Gegenpol und Eindämmung der progressiv-revo-
lutionären Politik von Gamal Abd al-Nasser betrieben hat-
te, avancierte das wahhabitisch geprägte Saudi-Arabien zu
einem Gravitationszentrum und Rückzugsgebiet diverser
islamischer/islamistischer Gruppierungen und Strömun-
gen, die aufgrund ihrer islamischen/islamistischen Aktivitä-
ten anderenorts in der arabisch-islamischen Welt verfolgt
wurden oder zumindest restriktive Behandlungen erfuh-
ren.
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Vor diesem Hintergrund ist Saudi-Arabien in vieler-
lei Hinsicht – materiell, finanziell, ideologisch, symbolisch
etc. – von hoher Relevanz für die Entstehung und Entwick-
lung des heutigen Salafismus. Insbesondere der Wahhabis-
mus ist in diesem Kontext an prominenter Stelle zu nennen.
Dieser gilt als prägende Einflussgröße auf die Entstehung
des zeitgenössischen Salafismus.
Aus dieser Gemengelage hat sich eine „neue“ salafistische
Strömung herausgebildet, die zwar vom wahhabistischen
Salafismus beeinflusst war, gleichwohl aber eigene theologi-
35 Ebd., S. 106 f.
36 Lacroix (wie Anm. 27), S. 62 f.
37 Raschid Rida (1865–1935) war der Schüler von Muhammad Abdoh. Zu Beginn seiner religiösen Ausbildung war Rida stark vom Reform-
Salafismus al-Afghanis und Abdohs beeinflusst. Später aber distanzierte er sich vom Reform-Salafismus und vertrat stärker traditionalisti-
sche Positionen, die bisweilen vom Wahhabismus geprägt waren. Dazu Hafez (wie Anm. 34), S. 109–112.
38 Seine Ablehnung der Rechtsschulen bewirkte eine Entfremdung bis hin zu Anfeindungen seitens wahhabitischer Gelehrter, die sich der
hambalistischen Rechtsschule zugehörig sahen. Dieser Gegensatz wurde später aufgelöst.
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trat zwar eine ähnliche Position, bevorzugte jedoch die Re-
formierung des zu seiner Zeit realexistierenden Islam. Er
bekräftigte ein Einvernehmen zwischen rationalistischem
Denken und Wissenschaft auf der einen Seite und der isla-
mischen Religion auf der anderen.
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Die Denkperspektive der Reform-Salafisten war
geprägt von einer starken Neigung, rationalistische Urteils-
kraft als theologische Handhabe zu etablieren. Sie haben
sich zwar auf die klassischen Werte des Islam berufen und
das Ideal der „rechtschaffenen Altvorderen“ hervorgeho-
ben, gleichwohl standen sie mit ihrer rationalistischen Nei-
gung im Widerspruch zu der traditionalistischen Strömung
der „Angehörigen der Überlieferungen“, die für eine litera-
listische Vorgehensweise eintraten.
Vor diesem Hintergrund kann das Phänomen des
Reform-Salafismus nicht unmittelbar mit dem Phänomen
des heutigen bzw. des neo-klassischen Salafismus in Ver-
bindung gebracht werden.
sche Aspekte hervorgebracht hat und sich noch heute wei-
ter diversifiziert. Als die zentrale Figur dieser neuen salafis-
tischen Entwicklung gilt der aus Albanien stammende und
in Syrien aufgewachsene Hadith-Gelehrte Nasir al-Din al-
Albani (1914–1999). Al-Albani war zum Teil beeinflusst
von Raschid Rida,
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hatte sich aber auch intensiv mit der
Hadith-Wissenschaft auseinandergesetzt. Er lehnte die vier
sunnitischenRechtsschulen ab
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und insistierte auf einen au-
thentischen Umgang mit dem Koran und den Hadith-
Sammlungen, um dem Vorbild der „rechtschaffenen Alt-
vorderen“ näher zu kommen.
Salafismus – zentrale Aspekte eines
Idealtypus
Wie bereits erwähnt, sind die Ausprägungen des zeitgenös-
sischen Salafismus heterogen und zum Teil gegensätzlich
ausgeprägt. Der Versuch der Erstellung eines Idealtyps, um
Salafismus als Analysekategorie erfassen zu können, wurde
bereits oben angesetzt, indem eine ideengeschichtliche Ver-
ortung vorgenommen wurde. Dies zeigen die zentralen his-
torischen Figuren und ihre Denkansätze, an die der heutige
Salafismus anknüpft. Der folgende Schritt beleuchtet drei
wesentliche Aspekte – Glaubenslehre, Rechtsfindung und
Methode – die in idealtypischer Weise dem Phänomen Sala-
fismus konstitutiv zugrunde liegen.
Die Glaubenslehre
(aqida)
Die Glaubenslehre im Salafismus bezieht sich auf die der
„Angehörigen der Tradition und der Gemeinschaft“ (
ahl al-
sunna wa al-jamaa
), die als „rechtschaffene Altvordere“ ei-
nen wahrhaftigen Islam vorgelebt haben. Im Mittelpunkt
dieser Glaubenslehre steht die Einheit Gottes bzw. der Ein-
Gott-Glaube (
tawhid
). So bildet dieser Glaubensgrundsatz
das Kernelement des salafistischen missionarischen Akti-
vismus (
daawa
) und ermöglicht ferner „Aussagen über die
Erwartungen, welche an den Menschen (von Seiten der Sa-
lafisten) gestellt werden. Salafisten nutzen diesen starken
aktionistischen Charakter dazu, ihre Anhänger zu politi-
schen oder rituellen Handlungen zu drängen. Dabei wird
nicht selten jede noch so geringe Handlungsform in Ritus
und Alltag, wie etwa die korrekte Begrüßung […] auf die
[Glaubenslehre] zurückgeführt, die bei «nicht korrekter»
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