Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 16

Otto von Bismarck – Erblast und Erbe
dem kaiserlichen Emporkömmling Napoleon III. und sei-
nen Methoden gegenüber einnehmen sollte. Heute geht es
um Asylkompromisse, um die Position in der Ukraine-Fra-
ge oder um das globale Eintreten für die Menschenrechte
und die Demokratie.
Die preußischen Hochkonservativen, allen voran
der Gerlachkreis, vertraten eine an unverrückbaren Prinzi-
pien und dogmatischen Grundsätzen orientierte Politik.
Napoleon III. war für sie die Inkarnation der Revolution.
Sie dachten in festen Kategorien von Freund und Feind, ihr
Denken und Handeln war ganz von religiösen und ethi-
schen Fundamenten, von weltanschaulichen Überzeugun-
gen und legitimistischen Grundsätzen bestimmt. Bismarck
dagegen war ein Vertreter der Realpolitik, der dafür eintrat,
die dogmatische Enge und Beschränktheit ideologischer
Zielvorgaben in der Politik über Bord zu werfen und eine
an den nackten Realitäten und am reinen Maßstab des Er-
folgs ausgerichtete, elastische Interessenpolitik zu treiben.
„Sie können von einem lernbegierigen Diplomaten diese
politische Keuschheit nicht verlangen“, so hielt er seinen
Freunden und Kritikern entgegen. „Fürchten Sie dabei
nicht für meine politische Gesundheit; ich habe viel von der
Natur der Ente, der das Wasser von den Federn abläuft, und
es ist bei mir ein ziemlich weiter Weg von der äußeren Haut
bis zum Herzen.“
11
Pragmatismus oder Prinzipientreue – das war der
grundlegende Konflikt in der Ära Bismarck. Bis heute ist
dies im politischen Geschäft so geblieben. Max Weber hat
diese Antinomien in die Formeln von der „Verantwortungs-
ethik“ und der „Gesinnungsethik“ gegossen. Diesem Spagat
sind alle politisch Handelnden ausgesetzt. Immer gilt es die
Entscheidung zu treffen, ob man moralische und ideologi-
sche Maßstäbe zum Leitprinzip des Handelns macht oder
ob man den so verführerisch simplen Gegensatz zwischen
Gut und Böse aufhebt, sich am Erreichbaren orientiert und
hehre Prinzipien unter dem Druck des Faktischen auf dem
Altar der Interessenpolitik opfert.
Es gibt noch ein drittes Element der Bismarckschen
Zeit, das bis in unsere Tage reicht: die Verantwortung des
Politikers für die Folgen seiner Entscheidungen, die gewis-
senhafte Abwägung von deren Tragweite und die alle Kon-
sequenzen bedenkende Rechtfertigung des Handelns.
Bismarck hat diese Gewissensentscheidung ganz
am Beginn seiner politischen Karriere in der sogenannten
„Olmützer Rede“ im Dezember 1850 vor der Zweiten
Preußischen Kammer
in funkelnder Rhetorik formuliert.
Sie besitzt bis heute unverminderte Gültigkeit. Damals be-
zog sie sich auf einen möglichen Krieg Preußens gegen
10 Diktat Bismarcks, 9.11.1876, in: Die große Politik der Europäischen Kabinette von 1871-1914. Sammlung der diplomatischen Akten des
Auswärtigen Amtes, hg. von Johannes Lepsius u.a., Berlin 1922, Bd. 2, Nr. 256, S. 88,
11 Bismarck an Leopold von Gerlach, 15.9.1855, in: Bismarck (wie Anm. 1), Bd. 2, Nr. 35, S. 76.
16
Einsichten und Perspektiven 1 | 15
„deutschen Europa“ und einem „europäischen Deutsch-
land“ optieren zu müssen, endlich entschieden? Oder ist
Bismarcks Maxime, dass „Macht vor Recht geht“, nach wie
vor aktuell?
Bis heute, fast 60 Jahre nach den Römischen Ver-
trägen von 1957, hat es die Europäische Union nicht ver-
mocht, denGegensatz zwischen demEgoismus ihrer immer
zahlreicher werdenden Mitgliedstaaten und dem das einzel-
staatliche Denken überwölbenden europäischen Gesamtin-
teresse aufzulösen. An dieser Aufgabe ist sie institutionell
gescheitert, was die Akzeptanz und Effizienz ihrer Gremien
und die klare Mehrheitsentscheidung bei deren Beschluss-
fassung angeht. Sie ist aber auch inhaltlich daran gescheitert.
Einen Kernbestand an verpflichtenden gemeinsamen Wer-
ten, Traditionen, geschichtlichen Erfahrungen und daraus
resultierenden konstruktiven Zielsetzungen hat man bis
heute weder verbindlich definiert noch kommuniziert. Ein
kollektives europäisches Bewusstsein, abgeleitet aus den
einzigartigen Errungenschaften der abendländischen Kul-
tur, ihrer Brüche und Lehren, konnte sich daher höchstens
in Ansätzen entwickeln. Statt sinnstiftender Integration do-
minieren Verteilungskämpfe die aktuelle Debatte; anstelle
eines integrativen Fundaments mit der Durchsetzung der
Regeln von Verträgen, gibt es immer wieder neue gewagte
Umdeutungen und prekäre Auslegungen derselben im na-
tionalstaatlichen Interesse; und statt einem effizienten Pro-
blemmanagement in der Währungskrise herrscht die be-
ständige Rücksichtnahme auf egoistische Begehrlichkeiten,
Befindlichkeiten und Bremsmanöver vor.
Von der Vision eines geeinten Europas, vereinigt in
Geist, Überzeugung und Handeln, sind wir noch weit ent-
fernt. Ob dies je Wirklichkeit werden kann, daran hatte
schon Bismarck seine Zweifel. Er ließ sich voller Sarkasmus
darüber aus, dass ein umspannender Europagedanke jemals
zumMaßstab der Politik werden könne, als er vor dem Ber-
liner Kongress zur Kennzeichnung der mit Machtegoismen
aufgeladenen Atmosphäre feststellte: „Ich habe das Wort
‚Europa‘ immer im Munde derjenigen Politiker gefunden,
die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eige-
nen Namen nicht zu fordern wagten.“
10
Ein zweites Element der Aktualität Bismarcks betrifft die
Gestaltung politischer Verhältnisse und die Pole, zwischen
denen sie bis heute oszilliert. Noch während seiner Zeit als
Gesandter Preußens am Bundestag zu Frankfurt hatte Bis-
marck mit seinen konservativen Gesinnungsfreunden in
Berlin einen wahrhaften Grundsatzstreit auszufechten. Die
Tiefendimension des Konfliktes ist bis heute unverändert
aktuell geblieben. Damals ging es um die Position, die man
1...,6,7,8,9,10,11,12,13,14,15 17,18,19,20,21,22,23,24,25,26,...80
Powered by FlippingBook